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Das neue schwache Geschlecht


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Das neue schwache Geschlecht




Von Carsten Germis


05. August 2007


„Schule? Was soll ich da?“ Hannes Blankenhorn, 17 Jahre alt, ist sitzengeblieben. Der große, etwas übergewichtige dunkelhaarige Junge will nach den Ferien nicht mehr zurück in seine Hauptschule im Berliner Bezirk Mitte. Mehr als 50.000 Jungen machen es in diesem Sommer wie Hannes. Sie verlassen ohne Abschluss die Schule. Zwei von drei Schulabbrechern sind Jungen. Starkes Geschlecht - von wegen. Die Statistik zeigt das Gegenteil: Jungen werden häufiger als Mädchen schon bei Schulbeginn zurückgestellt. Sie bleiben häufiger sitzen. Ihre Schulnoten sind nicht so gut, und sie haben die schlechteren Abschlüsse. „Wenn man sich den Schulerfolg ansieht, sind Jungen heute schon das schwache Geschlecht“, stellt die Berliner Bildungsforscherin Maureen Maisha Eggers fest.

Der Beweis: Beim Abitur übertrumpfen die Mädchen mittlerweile die Buben. Wenn heute Abiturzeugnisse verteilt werden, sind bei der Abschlussfeier 56 Prozent der Absolventen Schülerinnen. Auf der anderen Seite stellen die Jungen heute fast 57 Prozent der Haupt- und sogar fast zwei Drittel aller Sonderschüler. Das hat dramatische Konsequenzen: Immer mehr junge Männer bleiben ohne Ausbildungs- und Arbeitsplatz, weil es keine Jobs für Ungelernte gibt. Außerdem konzentrieren sich mehr als 90 Prozent der Jungen noch immer auf technische und handwerkliche Berufe, die für die Industriegesellschaft typisch sind. Deren Bedeutung nimmt aber ab. In den neuen Dienstleistungsberufen sind Jungen dagegen kaum anzutreffen.

Treten, schlagen, streiten

Dass die Jungen es im Bildungssystem schwerer haben, zeigt sich heute schon in der Grundschule: „Wenn ich morgens in die Klasse komme und den Schülern sage: ,Holt eure Hefte raus', dann packen alle Mädchen ihre Hefte auf den Tisch“, berichtet Herbert Rentmeister, Rektor einer Grundschule im nordrhein-westfälischen Dorsten. „Bei den Jungen sind es höchstens 80 Prozent.“

Jungen stören häufiger. Sie treten, sie schlagen, sie schreien. Sie sind nicht so brav. „Damit haben sie es im Unterricht häufig schwerer. Es wird gezielter mit Mädchen gearbeitet, weil sie sich leichter in die Schulstrukturen einpassen und konstruktiv mitarbeiten können“, sagt Bildungsforscherin Eggers. Natürlich sind Jungen immer schon rüpelhafter als ihre Mitschülerinnen aufgetreten. Lange sah niemand darin ein Problem. Doch körperliche Kraft und Überlegenheitsstreben haben in der modernen Wissensgesellschaft und in der Schule an Wert verloren.

Alte Rollenbilder


Jungen, auch die ganz kleinen, halten häufig an den alten Rollenbildern fest. Neue männliche Vorbilder fehlen ihnen, denn in der Schule sehen sie fast nur Lehrerinnen. In westdeutschen Lehrerkollegien stieg der Frauenanteil in den letzten zehn Jahren von 55 auf 61 Prozent, in den neuen Ländern liegt er bei 75 Prozent. In den Grundschulen sind Männer mit 15 Prozent kaum noch vertreten - und es werden eher weniger.

Diese Feminisierung der Schule ist nach Rentmeisters Ansicht einer der Gründe für die Bildungsmisere der Jungen. „Jungen brauchen klare Strukturen und sehr viel mehr Ansprache“, sagt er. „Die holen sie sich, notfalls auch mit Aggression.“


Oft geht der Unterricht auch inhaltlich an den Jungen vorbei, zum Beispiel beim Lesen. „Es gibt eine breite Literatur, die für Mädchen geeignet ist. Literatur für Jungen gibt es kaum“, sagt Rentmeister. Statt sich wie die Mädchen „unterrichtskonform“ zu verhalten, schalten sie lieber ab oder mimen in der Klasse den coolen Typ. Die Folge: Ihre Leistungen lassen nach. „Was sie aber gar nicht wollen, ist Verlierer sein“, sagt der Lehrer. „Dann ist gar nichts mehr zu machen, dann reagieren sie erst recht mit Leistungsabfall“ - eine Abwärtsspirale, die nur schwer zu stoppen ist.

Computerspiele und Fernseher

Während Mädchen mehr lesen, verbringen Jungen wie Hannes ihre Zeit lieber mit Computerspielen oder vor dem Fernseher. Zwei von drei Jungen sitzen länger vor dem Bildschirm als in der Schule. Bei den Mädchen sind es nur 14 Prozent. Die Schule geht auf dieses andere Freizeitverhalten aber nicht ein. „Am Computer sind sie ohne Anleitung“, sagt Eggers, „die Pädagogik hat die Gestaltungsmöglichkeiten, die hier liegen, bis heute kaum wahrgenommen.“

Wie könnte Schule den Jungen besser gerecht werden, damit sie in der Bildung nicht zum schwachen Geschlecht werden? Petra Weischede, Rektorin einer Grundschule in Berlin, sieht einen Weg, der bei vielen Lehrern noch auf Widerstand stößt: Manchmal sollten Jungen und Mädchen einfach getrennt unterrichtet werden. Wenn Sexualaufklärung auf dem Plan steht, praktiziert sie das schon. Jungen könnten sich anders geben, wenn sie den Mädchen nicht beweisen müssen, wie „cool“ sie sind. Kommentar eines Lehrers über einen Schüler, der sonst immer stört: „Da hab' ich den ganz anders erlebt, viel entspannter und lernwilliger.“


Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 05.08.2007, Nr. 31 / Seite 31
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