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Christliche Esoterik in der Anthroposophie Rudolf Steiners


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Christliche Esoterik in der Anthroposophie Rudolf Steiners





Anthroposophie wird von ihrem Begründer Rudolf Steiner (1861-1925) als ein Erkenntnisweg verstanden, „der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltall führen möchte".' Als solche ist die „anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft" auf vielen pädagogischen, therapeutischen und auf weiteren kulturellen Gebieten weltgestaltend fruchtbar geworden. Nun kann auch darauf verwiesen werden, daß Steiner eine ganz bestimmte Christusanschauung entwickelt hat. Daß es sich dabei nicht nur um einen Sektor dieses Weltanschauungsgebäudes neben anderen handelt, wird von Außenstehenden meist viel zu wenig berücksichtigt. Steiners Aussagen über das Christliche sind keinesfalls nur von peripherer Bedeutung, wie bisweilen angenommen wird. Richtig ist vielmehr, daß dieser Erkenntnisweg und alle aus ihm heraus entwickelten Aktivitäten - von der Pädagogik bis zur Biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise - von Christus bzw. von einer universalen Christusanschauung ihren Ausgang nehmen. Rudolf Steiner spricht hierbei vom „Christusimpuls", um damit die dynamische, Gegenwart und Zukunft bestimmende Kraft des Christentums hervorzuheben, und zwar ungeachtet all dessen, was an Niedergangserscheinungen in den geschichtlichen Kirchentümern zutage getreten ist.

Wie immer man zu Person und Werk oder gar zu bestimmten Vertretern seiner Geistesrichtung stehen mag, die überraschende, ja imponierende Geschlossenheit seiner Anthroposophie ist ein einzigartiges Phänomen in der Geschichte des Christentums überhaupt. Insofern läßt sich Anthroposophie mit solchen Formen eines esoterischen Christusverständnisses vergleichen, in denen die Fülle Christi am markantesten zum Ausdruck kam: Im Urchristentum ist es das Logos-Christentum des Johannes und die kosmische Christologie des Apostels Paulus. In der Neuzeit kann man an die Weltschau einen Jakob Böhme oder an die alchymistisch-rosenkreuzerische Welt-Frömmigkeit denken, die kulturell befruchtend Jahrhunderte hindurch wirksam geblieben ist, so schwer dies auch im einzelnen nachzuweisen sein mag. Das heißt: Wo immer (im Vollsinn des Wortes!) Katholizität bzw. Ökumenizität des Christlichen nicht nur in konfessioneller Hinsicht angestrebt worden ist, da ist ein Vergleich mit Steiners Entwurf angebracht. Wichtige Vergleichspunkte finden sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts in der Mystik und Weltdeutung des Jesuiten Pierre Teilhard de Chardin (1881-1955).

In einer zweifachen Weise läßt sich nun die Beziehung der Anthroposophie Steiners zur christlichen Esoterik bestimmen: einmal aufgrund seiner Anknüpfung an die esoterischen Traditionen im allgemeinen sowie an die christlichesoterischen Strömungen im besonderen; zum anderen im Blick auf den spe-ziellen esoterischen, auf Initiation hinzielenden Pfad, den Steiner in Wort und Schrift, in individueller und in allgemeiner, öffentlicher Weise gewiesen hat. Die ersten Vorträge und Buchveröffentlichungen, die wir von Steiner aus der Zeit unmittelbar nach der Jahrhundertwende besitzen, beschäftigen sich einerseits mit der deutschen Mystik, angefangen von Meister Eckhart und Nikolaus von Kues über Agrippa von Nettesheim und Paracelsus zu Böhme und Angelus Silesius Johannes Scheffler. Hinzu tritt in zahlreichen Vorträgen eine Anknüpfung an die rosenkreuzerische Symbolik. Auf der anderen Seite beleuchtet er das Verhältnis der vorchristlichen Mysterien der griechisch-römischen Antike zum Christentum." Er bezieht ferner östliche Spiritualität, den hinduistischen Yoga oder den buddhistischen Achtstufen-Weg in seine Betrachtung ein, ohne jedoch einen Zweifel darüber aufkommen zu lassen, daß die Schulungswege des Abendlandes anderen bewußtseinsgeschichtlichen Voraussetzungen unterliegen als die des Morgenlandes.' Steiner schließt sich für ein ganzes Jahrzehnt der anglo-indischen theosophischen Gesellschaft (Theosophical Society) von H. P. Blavatsky und H. St. Olcott an, deren deutsche Sektion er unter Annie Besant bis zum Jahre 1912 als Generalsekretär leitet. Doch diese Verbindung war in erster Linie organisatorischer Natur, auch wenn man besonders in Steiners frühen Schriften theosophischer Terminologie und Gedankenführung begegnet. Im Gegensatz zu der theosophischen Lehrweise und den dort gepflegten Lehrinhalten war diejenige Steiners von Anfang an betont christlich orientiert, obwohl er dem theosophischen Einschlag, den die Gründung dieser Bewegung im Jahre 1875 darstellte, große Bedeutung beimaß. Annie Besant bestätigte die spirituellen Unterschiede in einem Handschreiben aus dem Jahre 1907 folgendermaßen: „Dr. Steiners okkulte Schulung ist von der unsrigen sehr verschieden. Er kennt den östlichen Weg nicht, daher kann er ihn auch nicht lehren.

Er lehrt den christlich-rosenkreuzerischen Weg, der für manche Menschen eine Hilfe, aber von unserem verschieden ist. Er hat seine eigene Schule und trägt auch selbst die Verantwortung dafür."
Für die weitere Bestimmung des christlich-esoterischen Einschlags der Steinerschen Anthroposophie sind sodann mindestens noch zwei Faktoren von Wichtigkeit: Der eine Faktor liegt im Persönlich-Schicksalhaften begründet und ergibt sieh aus der kaum zu bezweifelnden Tatsache, daß Steiner kurz vor der Jahrhundertwende im Verlauf einer inneren Krise eine Hinwendung zu Christus vollzogen hat. Noch in seinem auf dem letzten Krankenlager niedergeschriebenen autobiographischen Aufzeichnungen bekennt er sich zu diesem „geistigen Gestandenhaben vor dem Mysterium von Golgatha in innerster, ernstester Erkenntnis-Feier".

An dieser Stelle seines „Lebensganges" legt Steiner Wert auf die Feststellung, daß seine früheren abfälligen Äußerungen über das Christentum nur insoweit zu recht beständen, als sie die „Jenseitslehre" der christlichen Bekenntnisse seiner Zeit betreffen. Seine Geistesanschauung wandte sich gegen jene Religiosität, die, wie er meinte, von außen her durch sittliche Gebote oder durch äußere Offenbarung bestimmt schien. Er hingegen meinte, daß „das sittliche Leben nicht von außen durch Gebote gehalten, sondern aus der Entfaltung des seelisch-geistigen Menschenwesens, in dem das Göttliche lebt", hervorgehen müsse, wenn es das Freiheitsbedürfnis des individuellen Menschen respektiere. Als monistisch orientierter Naturwissenschaftler wollte er in geistiger Nachfolge Goethes auch in den Phänomenen der Natur leben.

Damit berühren wir den anderen Faktor, der Steiners Ansatz maßgeblich bestimmte. Was sich aus seiner geistigen Forschung ergab - und dazu gehörte auch seine Christusanschauung - das sollte sich auch vor der exakten Naturwissenschaft vertreten lassen, allerdings so, daß sich der Beobachter okkultgeistiger Vorgänge durch den Naturwissenschaftler keine Vorschriften machen lassen muß. Wie das gemeint ist, wie man als Anthroposoph „im Sinne der Naturwissenschaft" arbeiten könne, das findet sich in der Einleitung zu „Das Christentum als mystische Tatsache" so dargelegt:

„Man handelt nur im Sinne der Naturwissenschaft, wenn man den geistigen Werdegang des Menschen ebenso unbefangen betrachtet, wie der Naturforscher die sinnliche Welt beobachtet. Man wird dann allerdings auf dem Gebiete des Geisteslebens zu einer Betrachtungsart geführt, die sich von der bloß naturwissenschaftlichen ebenso unterscheidet wie die geologische von der bloß physikalischen, die Untersuchung der Lebensentwicklung von der Erforschung der bloßen chemischen Gesetze. Man wird zu höheren Methoden geführt, die zwar nicht die naturwissenschaftlichen sein können, aber doch ganz in ihrem Sinne gehalten sind. Dadurch wird sich manche einseitige Ansicht der Naturforschung von einem andern Gesichtspunkte aus modifizieren oder korrigieren lassen; aber man setzt damit die Naturwissenschaft nur fort; man sündigt nicht gegen sie."

„Fortsetzung" meint hier wohl „Vervollständigung" der materiellen Betrachtung durch eine komplementäre, spirituelle. Diesen Gesichtspunkt - man könnte ihn den esoterischen nennen - bringt Steiner sowohl angesichts des Christentums als auch anderer religiöser Vorstellungswelten zur Geltung. Die Tragweite der darin liegenden Entscheidung ist erheblich und wirft entsprechende Fragen auf, denn - so fährt Steiner an der bezeichneten Stelle fort: „Auch über die bloß geschichtliche Erforschung der Dokumente des Geisteslebens muß ein also Forschender hinausschreiten. Er muß es gerade wegen seiner aus der Betrachtung des natürlichen Geschehens geschöpften Gesinnung. Es hat für die Darlegung eines chemischen Gesetzes wenig Wert, wenn man die Retorten, Schalen und Pinzetten beschreibt, die zu der Entdeckung des Gesetzes geführt haben. Aber genau so viel und genau so wenig Wert hat es, wenn man um die Entstehung des Christentums darzulegen, die geschichtlichen Quellen feststellt, aus denen der Evangelist Lukas geschöpft hat; oder aus denen die ,geheime Offenbarung` des Johannes zusammengestellt ist. Die Geschichte` kann da nur der Vorhof der eigentlichen Forschung sein. Nicht dadurch erfährt man etwas über die Vorstellungen, welche in den Schriften des Moses oder in den Überlieferungen der griechischen Mysten herrschen, daß man die geschichtliche Entstehung der Dokumente verfolgt. In diesen haben doch die Vorstellungen, um die es sich handelt, nur einen äußeren Ausdruck gefunden ... Und im Geistesleben wird man sich an den Geist und nicht an seine äußeren Dokumente zu halten haben."

Steiner geht es also seit dem Beginn seiner spezifisch anthroposophischen Lehrtätigkeit um die Bewußtmachung der „mystischen Tatsache des Christentums". Gemeint ist die Aufdeckung der spirituell-esoterischen Dimension, ohne die die Wirksamkeit des historischen Jesus von Nazareth garnicht zureichend verstanden werden kann. Die historische Tatsache wird dadurch nicht in Frage gestellt, sondern vorausgesetzt. In Erfüllung dieser seiner Aufgabe geht der Begründer der Anthroposophie einen anderen Weg als der Historiker oder als der Philologe. Er läßt deshalb auch weitgehend außer acht - und hier ist ein nicht unproblematischer Punkt! -, was die theologische Bibelexegese bisher geleistet hat. Was Steiner als Ergebnisse seiner geistigen Schau mitgeteilt hat, läßt sich nicht ohne weiteres aus den Evangelien selbst ablesen, etwa wenn er in dem erwähnten Buch „Das Christentum als mystische Tatsache" in dem Schreiber des Johannesevangeliums den von Christus in einer Mysterienhandlung erweckten Lazarus als den „Jünger, den Jesus liebhatte", erblickte. Eine Reihe derartiger Mitteilungen „aus der Akasha-Chronik" wurden von Steiner gemacht. Sie finden sich u. a. in den Vorträgen zu den Evangelien."'

Aber sieht man einmal von solchen Enthüllungen ab, deren Problematik gewiß nicht dadurch gelöst ist, daß man sie als blind zu glaubende Ergebnisse der Geistesforschung" akzeptiert, so verdient noch folgender Gesichtspunkt Beachtung: Steiners Ziel war es, in der Zeit des Rationalismus und Materialismus „der Welt den Weg zum Christus zu bahnen" (Marie Steiner) Die zahlreichen zu mehrteiligen Zyklen zusammengefaßten Vorträge über die vier Evangelien begannen 1908 mit dem Johannesevangelium. Unter Berufung auf das Christus-Wort (Matth 28): ,,Siehe, ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende!" lenkte er die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer einerseits auf den Christusimpuls, der heute und immer in der geistigen Welt zu finden sei. Andererseits lag Steiner daran, das im Zeitalter des theologischen Liberalismus entglittene Evangelienwort wiederzugewinnen. Beide Momente in der Christosophie Rudolf Steiners sind aufeinander bezogen. Es geht daher nicht an, ihn als einen einseitigen Spiritualisten zu bezeichnen, der den „Buchstaben" zugunsten des „Geistes" preisgibt. Denn: „Was jetzt notwendig ist, das ist, daß die Evangelien wieder verstanden werden, ganz wörtlich; denn in ihrem wörtlichen Verstehen liegt ihr wahrer Weisheitsgrund." So heißt es in einem für Steiners Ansatz wichtigen Vortrag aus dem Jahr 1909. Natürlich ist mit „wörtlichem Verstehen" nicht etwa ein naiver Biblizismus oder platter Fundamentalismus gemeint, sondern das Ernstnehmen der in den Wortlauten, Bildern und Gleichnissen enthaltenen Symbole.
Dann kommt man Steiners Anliegen näher. „Heute stehen wir schon in einer gewissen Beziehung vor der unmittelbaren Notwendigkeit, aus spirituellen Erlebnissen heraus auf dieses Christusereignis hinzuweisen." Von daher gesehen müsse sich die Anthroposophie zum „Instrument machen, um zu begreifen, was der Christusimpuls eigentlich ist". Denn nicht eine theologische Lehre will das Evangelium sein, sondern ein Kraftimpuls, eine Kraftmitteilung. Von daher ergebe sich auch der innige Zusammenhang zwischen dem, was sich in einem geschichtlichen Augenblick in Palästina ereignet hat, und der Anthroposophie, in der Steiner einen Weg sieht, zur geistigen Substanz der verlorenen Christusbotschaft zurückzufinden. Dieses „Zurück" ist freilich nur insofern angemessen, als es sich um ein Zurück zu dem spirituellen „Wort in den Wörtern" (K. Barth) handeln soll. An eine bloße Wiederaufnahme alter bibelhermeneutischer Methoden und Anschauungen, etwa derjenigen der sogenannten Verbalinspiration," kann nicht gedacht sein. Es ist ja gerade der gegenwärtige Christus, auf den sich Steiner Mal um Mal beruft. Und das Wort dieses Christus wird bei wachem Ich-Bewußtsein erfahren, nämlich auf dem Weg eines meditativen Umgangs mit den Sinnzeichen (griech. ,semeia'), den Gleichnissen und den Wahrworten des Christus (,Ich bin das Licht der Welt . . .`).

Und was die Fragen der Kritiker an der Bibel betrifft, so kontert Steiner: „Man hat nur die Antworten, die das Christentum selber gegeben hat, nicht verstanden, weil man nicht mehr die lebendige Kraft der großen majestätischen Bilder auf die Seele wirken lassen konnte ... Das ist ja gerade das Tragische, daß diese Wissenschaft - und wer sie kennt, wird das zugeben - gerade wegen ihres tiefen Ernstes und ihres ungeheuer hingebungsvollen Fleißes, die man nur bewundern kann, zu einem vollständigen Zersplittern und Vernichten dessen geführt hat, was sie hat lehren wollen. Und die künftige Entwicklung der Menschheit wird dies als ein besonders tragisches Kulturereignis unseres Jahrhunderts empfinden, daß man hat wissenschaftlich die Bibel erobern wollen durch eine unendlich bewundernswürdige Wissenschaft, und daß dies dazu geführt hat, daß man die Bibel verloren hat."

In dem soeben angeführten Vortrag aus dem Jahr 1911 kommt Steiner zu ganz ähnlichen Ergebnissen wie die archetypische Psychologie und wie die auf sie sich stützende Bibelauslegung, insbesondere seit C. G. Jung. Ferner läßt Steiner durchblicken, daß Esoterik und Exoterik gangbare Wege zu Christus darstellen. Beide Wege setzen „das Christusereignis als eine objektive Tatsache der menschlichen Erdenentwicklung" voraus. Es handelt sich nicht nur um ein subjektiv eingegrenztes Glaubenserlebnis. Beide Wege führen zu dem einen Christus, der sich seit dem Ereignis von Golgatha und seit seiner Auferstehung mit dieser Erde verbunden hat, wodurch er der gesamten Menschheit nahe ist, nicht nur denen, die sich Christen nennen.

Zu dem esoterischen Christusverständnis rechnet Steiner im besonderen eine „Kommunion im Geiste", die es dem „entwickelten Christen" ermöglicht, durch Meditation und Kontemplation „sich im Geiste zu dem zu erheben, was ja auch in Zukunft ein exoterischer Weg für die Menschen werden soll".

Dabei werde der Gedanke des christlichen Abendmahls, der Eucharistie, also der Kommunion mit Christus erhalten bleiben. Es werde diese geistige Vereinigung mit Christus selbst etwas Konkretes sein, also eine Tatsache, die Ausdruck der „Erweiterung des Christusimpulses" ist. Der anthroposophische Erkenntnisweg mit seinen Übungen zur Verstärkung des seelisch-geistigen Erlebens weist letztlich auf eben dieses Ziel hin.
Das Nebeneinander des exoterischen und des esoterischen Weges zu Christus begründet Steiner damit, daß die Menschheit in einem Stadium des Übergangs lebe, in dem es darauf ankomme, den traditionellen, exoterischen Weg der Kirchen in eine neue christliche Esoterik hinüberzuführen. Beide Male handelt es sich um den Zugang zum lebendigen gegenwärtigen Christus, also nicht nur um die Person des historischen Jesus von Nazareth der Vergangenheit, dessen irdische Biographie durch die Leben-Jesus-Forschung trotz intensiver Bemühung nicht rekonstruiert werden konnte.

Und noch eine weitere wichtige Aussage Steiners ist anzuführen. Es ist jene, wo er von dem Christusereignis des 20. Jahrhunderts spricht." Er verbindet damit die Überzeugung, daß in zunehmendem Maße Menschen fähig sein werden, den Christus als den Gegenwärtigen zu erfahren, ja zu schauen, und zwar auch ganz ohne irgendeine religiöse Vorbereitung oder Einstellung. Die Rede ist von der Wiederkehr Christi im Ätherischen, d. h. im Bereich der Lebenskräfte.

Weil in einem früheren Kapitel dieser Schrift vom rosenkreuzerischen Christentum gesprochen wurde, sei schließlich auf die hohe Wertschätzung hingewiesen, die Rudolf Steiner für die „Theosophie des Rosenkreuzers" und für die Inspiration des „Christian Rosenkreuz" aufgebracht hat. In einer Reihe von Vorträgen hat er den Rosenkreuzerweg als eine dem heutigen Bewußtsein des westlichen Menschen angemessene, freilich auch weiter zu entwickelnde Art der spirituellen Schulung geschildert. Die Aktualität dieser Schulung, die sich von der christlich-mystischen des Mittelalters unterscheidet, liegt nach Steiner in folgendem begründet:

Um die rosenkreuzerische Weisheit aufzufinden, ist das Vermögen geistiger Schau erforderlich. Eng damit verbunden ist die Bereitschaft und Fähigkeit, die Phänomene der uns umgebenden Wirklichkeit zu sich sprechen zu lassen, eine Tugend, die von Naturphilosophen wie Paracelsus oder Jakob Böhme in beispielgebender Weise geübt worden ist. Die Inhalte dieser Weisheit aber können und sollen zudem auch auf dem denkerischen Weg erfaßt und geprüft werden. Undurchschautes ist abzulehnen, - eine Forderung, durch die Steiner seine Wissenschaft vom Geist von solchen okkultistischen Bestrebungen deutlich abgegrenzt hat, bei denen bei reduziertem Bewußtsein mit medial veranlagten Personen gearbeitet wird. Steiners eigene Meditationsübungen beginnen daher bei Übungen zur Verstärkung und Klärung der Denkfunktion. Das Fühlen und Wollen wird sodann einbezogen.

Wesentlich ist ein weiterer Gesichtspunkt: Das Verhältnis des rosenkreuzerisch ausgerichteten Geisteslehrers zu seinem Schüler ist ein freilassendes. und nicht etwa auf Autorität hin angelegt. Darin unterscheidet es sich von östlichen Guru-Praktiken, auch von älteren christlichen Exerzitienmeistern, obwohl bereits Ignatius von Loyola auf das selbständige Entwickeln innerer Evangelienbilder im Zusammenhang seiner „Exercitia spiritualia" großen Wert gelegt hat. So muß in voller Bewußtheit und innerer Freiheit die Quelle der Weisheit in der eigenen Seelentiefe erschlossen bzw. empfangen werden. Im übrigen gilt: „Rosenkreuzerweisheit muß nicht nur in den Kopf gehen, auch nicht bloß in das Herz, sondern in die Hand, in unsere manuellen Fähigkeiten, in das, was der Mensch täglich tut. Es ist kein sentimentales Mitfühlen, es ist ein Sich-Erarbeiten der Fähigkeiten, innerhalb des allgemeinen Menschheitsdienstes zu wirken.

Was im Zusammenhang mit der sekundären Bedeutung historischer Dokumente und religiöser Urkunden gesagt worden ist, das trifft in ähnlicher Weise auch bei Steiners Stellung zum Rosenkreuzertum in seiner Geschichte zu. Demnach ist Anthroposophie keinesfalls eine nur restaurierte Rosenkreuzerei. Wichtiger als die Beschreibung, auch wichtiger als die Ausdeutung der historischen Gestalt eines esoterischen Christentums rosenkreuzerischer Prägung" ist das seelisch-geistige Erleben, das aus der meditativen Beschäftigung mit diesen Gehalten erwachsen kann. Nicht der Meditationsstoff als solcher ist letztlich von Bedeutung; Meditation ist nicht von den meditierten Gegenständen abhängig, sondern was ihnen meditativ abgerungen werden kann, bringt einen Erkenntnisgewinn. Wenn Steiner beispielsweise in seinem Schulungsbuch „Geheimwissenschaft im Umriß" den Rat gibt, das Sinnbild des Rosenkreuzes zu imaginieren, indem man die einzelnen Elemente aus freiem Willensentschluß heraus in sich da sein läßt und dann Schritt für Schritt zu einem Ganzen zusammenfügt, dann mißt er dem Vorgang und der seelischen Aktivität die eigentliche Bedeutung zu. Der Meditierende solle sich sagen: „Ich will mich also in kein (fertiges) Bild, sondern in meine eigene bilderzeugende Seelentätigkeit versenken." Damit dürfte der betont esoterische Charakter der Anthroposophie als Erkenntnisweg hervorgehoben sein. Dieses seelenaktive Tun, dieses Erleben, Erfahren und Erkennen gehört primär zum Wesen des Esoterischen. Sogenanntes „esoterisches (oder geheimes) Wissen", das im Vortragswerk Steiners einen so breiten Raum einnimmt, ist wie in nichtanthroposophischen Zusammenhängen durchaus von zweitrangiger Bedeutung; es ist bestenfalls zeit- und situationsbedingtes Anschauungsmaterial, das seinerseits entschlüsselt werden muß. Jede naive Verobjektivierung einer symbolhaltigen Aussage führt in die Irre, auf die Ebene von „Mondkälbern", wie Kant gesagt haben würde ...
Nun sind Bewegungen des esoterischen Christentums immer wieder, mittelbar und unmittelbar, für das kirchlich-exoterische Christentum fruchtbar geworden. Darin liegt wohl auch der Sinn, daß geistig-religiöse Erfahrungen gemäß dem neutestamentlichen Gleichnis vom Salz bzw. vom Sauerteig zu gegebener Zeit eine Fermentwirkung ausüben. Die indirekten Einflüsse, welche die Anthroposophie seit den Tagen Rudolf Steiners auf die übrige Christenheit ausgehen ließ, lassen sich freilich im einzelnen schwer nachweisen, da sie in der Regel zunächst auf das Denken der jeweils davon berührten Menschen gewirkt haben. Daß sich jedoch die Kirchen der Anthroposophie gegenüber offiziell verschlossen haben, ist bekannt. Steiner hat seinerseits niemals etwaige Erwartungen der offiziellen Theologie gegenüber gehegt. Religionsstiftend wollte er erklärtermaßen niemals tätig sein. Diese Selbstbeschränkung trifft sogar auf die 1922 gegründete „Christengemeinschaft" zu, obwohl die Wortlaute des Rituals, insbesondere die der „Menschenweihehandlung" sowie weitere richtungweisende Angaben von Rudolf Steiner stammen. Eine esoterische Form des Christentums ist diese „Bewegung für religiöse Erneuerung" aber nicht, sondern eine kirchliche Gemeinschaft.


Zitiert aus
Gerhard Wehr, "Esoterisches Christentum",

Verlag Klett-Cotta, ISBN 3-608-91719-5, 1995
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