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»Evangelikal«: Ist das Wort noch zu halten?


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Rolf

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»Evangelikal«: Ist das Wort noch zu halten?





Von Rolf Krüger


12.07.2007


Wer gestern um viertel vor elf wie 1,41 Mio. andere Bundesbürger die ARD einschaltete, der fühlte sich ins finstere Mittelalter zurückversetzt: Lodernde Flammen zu düsteren Bibelversen von Tod und Hölle – es ging um die schrecklichste aller religiösen Bewegungen, die „Evangelikalen“.

Böse bis aufs Blut beherrschen sie die dunkle Kunst der seelischen Indoktrination mit zwielichtigen und wissenschaftsfeindlichen Weltanschauungen, burlesken Gesellschaftsordnungen und martialischen Riten. Sie breiten sich aus. Ja, sie sind gar auf dem Vormarsch!

Und nichts ist vor ihnen sicher: Nicht der Biounterricht mit der wissenschaftlich bewiesenen Evolutionslehre, nicht die sich als lesbisch outende Pfarrerin, die sich tätlich verfolgt fühlt, ja nicht einmal die Landeskirche in Sachsen, die den Pfarrer der Frauenkirche in Dresden versetzte, weil er sich hatte scheiden lassen. Die Evangelikalen – Höllenprediger und Schulverweigerer im Namen des Herrn!

Dazu muss man sich besagte lodernde Flammen und eine Stimme wie in einer Pharanonen-Doku vorstellen, fürderhin Bilder von verschüchtert wirkenden Mittzwanzigerinnen, die wie von Sinnen Gebete von Unterwerfung und Pflicht herunterplappern, ekstatisch predigenden Mittdreissigern, die die versammelte Gemeinde anbrüllen und rückständig gekleideten Mittvierzigern mit russlanddeutschem Akzent, die ihre Kinder zu Hause unterrichten und somit wegsperren.

Lässt man dieses Pottpuri auf sich wirken, dann hat man ungefähr einen Eindruck des gestrigen ARD-Beitrags. Und doch auch wieder nicht.

Nicht viel Fundamentalismus...

Denn viel mehr echten Fundamentalismus hat der Autor Tilman Jens in Deutschland offenbar nicht gefunden. Den Rest des Films versucht der Journalist verzweifelt, konservative, aber unter Christen verbreitete Positionen in ein fundamentalistisches Licht zu rücken.

Beispielsweise Hartmut Steeb, den man zwischen Tür und Angel nach seiner Meinung zu Homosexualität fragte und der – statt souverän zu antworten, ein solch komplexes Thema behandle man nicht auf der Türschwelle – Tilman Jens genau die Antwort lieferte, die dieser hatte hören wollen: „Homosexualität ist für uns inakzeptabel“.

Oder einen Hauskreis der Freien evangelischen Gemeinde im hessischen Dautphetal, in dem man nur fröhliche und gänzlich unindoktrinierte Christen sehen konnte, dessen Mitgliedern dann aber doch noch mit viel Mühe die gewollten Fundi-Aussagen zu Sex vor der Ehe und Schwulsein entlockt wurden.

Und wenn die Antwort ärgerlicherweise zu differenziert war? Sei’s drum: Einfach einen geschickten Schwenk zum vertrauten Höllenfeuer und die Pharaonendokustimme ein paar Sätze mit „fundamentalistisch“ und „engstirnig“ sagen lassen, schon „stimmt“ das Bild wieder.

Ein falsches Bild

Natürlich stimmt das Bild nicht – aber wie soll man ein Millionenpublikum vom Gegenteil überzeugen, das sich teils durch in erschreckendem Maße zutreffende Berichte und teils durch schlecht recherchierten Zweite-Hand-Journalismus eine Vorstellung von „den Evangelikalen“ gemacht hat?

Naja, und noch nicht mal vom Gegenteil, denn viele Dinge im evangelikalen Spektrum sind nun mal definitiv wunderlich. Wie die im Film portraitierten jungen Damen, die zwar beim Gebet Kopftuch tragen, deren Outfit unterhalb des Haaransatzes aber die Bezeichnung „sexy“ durchaus verdient hätte. Oder wie die russischen Aussiedler, die ihre Kinder vor der Evolutionstheorie schützen wollen und sie deshalb lieber ganz vom staatlichen Schulsystem fernhalten. Oder wie die freie Gemeinde, die ein zusammenlebendes Pärchen nicht in die Gemeinde aufnehmen würde, weil sie das wie die allermeisten Pärchen ohne Trauschein tun.

Dies sind verschiedene Abstufungen eines breiten Spektrums, das sich selbst in all seiner Verschiedenheit unter dem Begriff „evangelikal“ subsummiert. Und aus dem sich Journalisten wie Medienkonsumenten natürlich die spektakulärsten Elemente herausgreifen, um sie als Prototypen der evangelikalen Bewegung darzustellen. Eine übliche Entwicklung. Und vermutlich eine unumkehrbare.

Kaum zu korrigieren

Denn ich fürchte, dieses Bild der „Evangelikalen“ ist kaum mehr korrigierbar. Zu viel Negatives wurde unter diesem Begriff zusammengefasst, zu viel Abstruses wurde zu Unrecht damit assoziiert. Zu unscharf ist das Wort geworden. Selbst unter den sich selbst evangelikal Nennenden gibt es zig verschiedene Definitionen, wer nun dazu gehören darf und wer besser nicht.

Vielleicht ist es an der Zeit, diesen Begriff einfach aufzugeben. Ich weiß, er ist bequem, weil eingeführt - und das Kind braucht halt einen Namen. Aber wenn der Name zerschlissen ist und seine Aussage diffus, dann macht es vielleicht Sinn, ihn nicht allen Widrigkeiten zum Trotz aufrecht zu erhalten.

Vielleicht haben wir Evangelikalen einfach verloren, was unser Image angeht. Vielleicht müssen wir ein solches von ganz vorne neu aufbauen – wo auch immer wir dabei anfangen zu definieren, wer „dabei“ sein kann und wer nicht, wer und was evangelikal ist und wer oder was nicht.

Vielleicht ist der Begriff der „Evangelischen Allianz“ ja ausbaufähig – immerhin beeindruckte es Tilman Jens offensichtlich, dass hier Landes- und Freikirchler ganz ungezwungen zusammen feiern und arbeiten.

Das Ende der Absonderung?

Vielleicht ist aber auch eine begriffliche Absonderung der „Evangelikalen“ gegenüber den restlichen Protestanten schlicht nicht mehr zeitgemäß. Sind Evangelikale die besseren Evangelischen? Oder wird ein Protestant mit evangelikalem Profil automatisch unter diesen Sammelbegriff verfrachtet – ob er will oder nicht? Gibt es nicht schon jetzt zu viele evangelikale Nichtevangelikale, die nichts mehr von den Evangelikalen trennt als die Weigerung, sich unter diesem Namen mit all seinen Assoziationen zu präsentieren?

Vielleicht ist es an der Zeit, schlicht und einfach wieder zu Protestanten zu werden und damit allen Ballast und jeden Sonderanspruch, den der dann abgelegte Begriff mit sich brachte, abzuwerfen. Auch im Sinne der gerade von den Evangelikalen so sehr und so ehrlich ersehnten Einheit der Christen...
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