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Rolf

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Was ist evangelikal? 27.07.07




Stolz, evangelikal zu sein?




Glaubensthemen stehen wieder oben auf der Agenda. Die 90er waren das Jahrzehnt des gepflegten Wertediskurses à la Ulrich Wickert („Der Ehrliche ist der Dumme“). Heute führen Fromme wie Peter Hahne die Bestsellerlisten an. Doch steht zu befürchten, dass dieser gesellschaftliche Trend an der evangelikalen Bewegung vorbeirauscht. Was geschehen muss, damit das nicht passiert, beschreibt der Journalist, Dr. Markus Spieker.
Dass die Deutschen den Glauben wieder entdecken, lässt sich darauf zurückführen, dass sie in einer kollektiven Midlife-Crisis stecken. Die Wirtschaftswunderjahre waren die Geburtsstunde der Bundesrepublik, die rebellischen 60er und 70er die Pubertät, die 80er und 90er die Junge- Erwachsenenjahre. Alles schien hinauszulaufen auf ein postmaterialistisches Paradies, mit viel Geld und wenig Arbeit für alle. Vorruhestand forever. Dann fingen die Polen, Inder, Chinesen an, ranzuklotzen. Nun wackelt die Wohlstandsgarantie, reißen die sozialen Auffangnetze. Die Deutschen merken, dass ihnen materielle Sicherheiten fehlen, aber auch Sinn. Sogar für in die Jahre gekommene Prominente gilt: Sie sind zwar nicht plötzlich alle gläubig, aber neuerdings traurig, dass sie es nicht sind. In seiner Autobiographie schreibt der Kulturkritiker Helmuth Karasek: „Je weniger es die Religion gibt, desto mehr fehlt sie mir, obwohl ich doch nie glaubte.“

Wann kapieren sie endlich?

Wer eine „Kirche der Suchenden“ statt einer „Kirche der Erlösten“ propagiert, leidet nicht nur unter theologischer Sehschwäche, sondern auch unter anthropologischer Blindheit. Wann kapieren die so genannten „progressiven“ Kirchenkräfte endlich, dass die Menschen Antworten wollen, nicht Diskurse; dass sie sich nach Konstanten sehnen, nicht nach Variablen, nach finaler Gerechtigkeit, nach Liebe, die den Tod überwindet? Allerdings gibt es Anzeichen für Kurskorrekturen, die dazu noch vom „Kapitän“ höchstpersönlich ausgehen. Der EKD-Ratsvorsitzende sucht verstärkt das Gespräch und die Kooperation mit Evangelikalen. Einen Artikel über seinen „neuen Kurs“ leitete die „Welt am Sonntag“ vor wenigen Monaten mit der Bemerkung ein: „Deutschlands oberster Protestant Wolfgang Huber ist auf Kraftstoff für seine ausgezehrte Kirche gestoßen, auf evangelikale Glaubensglut.“ Seit meiner Kindheit in einem evangelischen Pfarrhaus warte ich auf diese Nachricht.

Kuscheln statt marschieren

„In Deutschland gibt es 1,3 Millionen evangelikale Christen – konservative Protestanten, die die Bibel als oberste Autorität betrachten“, klärte unlängst „Die Zeit“ ihre Leser auf, „ihre Zahl wächst stetig, und sie suchen Einfluss auf die Politik.“ Schön wärʼs. Das heißt: Vielleicht suchen wir den Einfluss, jedenfalls haben wir ihn noch nicht gefunden. Man muss außer dem Bundestag schon alle Landesparlamente durchforsten, um wenigstens auf eine Handvoll Abgeordnete zu kommen, die sich als „evangelikal“ bezeichnen würden. Während die Evangelikalen in den USA einen beachtlichen Marsch durch die politischen Institutionen absolviert und im Bildungsbereich effiziente Parallelstrukturen aufgebaut haben, kuscheln wir noch in den angestammten Reservaten. Ich habe mich bei meinen Journalistenkollegen umgehört. Keiner konnte mit dem Etikett „evangelikal“ tatsächlich etwas anfangen – trotz „Zeit“ und „Welt am Sonntag“. Damit komme ich zu einem zwiespältigen Zwischenfazit: Man fragt in Deutschland wieder nach Gott. Aber man fragt uns (als Evangelikale) nicht. Der Zustrom in unsere Gemeinden, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Volkskirche, hält sich in überschaubaren Grenzen. Die Mitgliedszahlen stagnieren. Jede Woche startet irgendwo ein schillerndes Gemeindegründungsprojekt, dafür schrumpfen oder sterben anderswo Gemeinden. Nullsummenspiele.

Gefangen in Randthemen

Wir Evangelikale lassen die Kirche buchstäblich im Dorf. Wir vernachlässigen traditionell die Orte, wo Macher und Denker sich tummeln, wo Trends entstehen und sterben, wo die Zukunft beginnt. In Berlin hat jeder Landfrauen-, Apotheker- und Tierschutzverband ein eigenes Hauptstadtbüro. Nur die „Evangelische Allianz“ als Dachverband der evangelikalen Bewegung nicht. Unsere Randlage wird noch dadurch verschärft, dass wir Randthemen besetzen. Wir sind nach innen geflüchtet, verzetteln uns in Binnendebatten zwischen „Realos“ und „Fundis“, suchen und attackieren die Gegner in den eigenen Reihen. Allerdings: Mit Groß-Israel-Lobbyismus, Sechs-Schöpfungstage-Junge- Erde-Kreationismus und Home- School-Sezessionismus ist in Deutschland buchstäblich kein Staat zu machen. Statt uns kakophonisch zu allem und jedem zu äußern, sollten wir unsere zentralen geistlichen und gesellschaftspolitischen Anliegen definieren und Strategien entwickeln, wie wir damit öffentliches Gehör finden.

Stolz, evangelikal zu sein?

Was uns beim Marsch in die Mitte ebenfalls bremst, ist: Selbst-Bewusstsein. Wer sind wir? Woher kommen wir? Was wollen wir? Ich vermute, kaum einer von zehn Evangelikalen kann die Bewegung, der er angehört, halbwegs korrekt beschreiben. Viele scheuen sich, das E-Wort überhaupt auf sich anzuwenden; sie wähnen sektiererische oder fundamentalistische Verknüpfungen, haben Angst, in Sippenhaft mit George W. Bush zu kommen. Noch nie in meinem Leben habe ich den Satz gehört: „Ich bin stolz, ein Evangelikaler zu sein.“ Vielleicht ist das Etikett auch vermarktungstechnisch ungeeignet, dann muss ein anderes her. Das Kind braucht einen Namen, jedenfalls einen, der attraktiver klingt als „Sammlungsbewegung erweckter, bibeltreuer und orthodoxer Protestanten“. Und wenn wir uns doch auf die Marke „evangelikal“ verständigen, muss diese penetranter als bisher kommuniziert werden. Wenn wir unseren Standort gefunden, unsere Geschichte erzählt und unsere Zukunft angedacht haben, können wir uns aufmachen. Nach dem Motto „getrennt marschieren, vereint schlagen“ sind – vor allem bei gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen – Allianzen mit liberalen Protestanten, Katholiken, Orthodoxen durchaus möglich und sogar wünschenswert.

Die Nachwuchsförderung ist das oberste Gebot

Fehlt es uns an Nachwuchs? Nein, wir haben viele begeisterte junge Christen! Wer aber bei ihnen nachbohrt, stößt oft auf diffuse Überzeugungen. Trinitätslehre? „Öh, da war doch was ...“ Die Schuld liegt am wenigsten bei ihnen. Mittelmäßiges Glaubenstraining schadet mehr, als der schönste Lobpreis und die stilvollste Teestube wettmachen können. Ohne Tiefgang in der Ausbildung gibt es keine Spitzenleute, ohne Spitzenleute kommt man – zumal in einer Kommunikationsgesellschaft – nicht in die Fläche. Deshalb stagnieren die evangelikalen Gemeinden. Wo sind dann unsere bekannten Autoren und Redner, unsere Geisteswissenschaftler und Trendforscher?

Das Fleisch ist willig …

Seit zehn Jahren höre ich die zehn selben Namen. Fast alle aus der Altersgruppe über 50. Das evangelikale Fleisch ist willig, aber der Geist schwächelt. Bevor wir evangelikales Agendasetting betreiben können, brauchen wir Agendasetter, deren Gestaltungskraft genauso groß ist hr-Gestaltungswille. Und zwar aus den Altersgruppen U50, U40, U30 ... Amerika hat es da, wieder einmal, besser. Bei zwischen 50 und 100 Millionen Evangelikalen ist das Personalreservoir größer, dazu kommt ein ausdifferenzierteres Bildungssystem, in dem auch evangelikale Kaderschmieden gedeihen können. Der Top-Redenschreiber von George W. Bush ist ein Absolvent des konservativ christlichen Wheaton College, genau wie der letzte US-Botschafter in Deutschland, Dan Coats. In den USA zahlen sich die Strukturen aus, die vor einem halben Jahrhundert geschaffen wurden. Uns fehlen diese Strukturen. Vielleicht fehlt uns auch der lange Atem. Nachhaltige Initiativen haben den Nachteil, dass die Ergebnisse nicht schon im nächsten Gemeindebulletin vermeldet werden können. Dazu sind sie kosten- und zeitintensiv. Aber ohne Alternative.

Über Keuschheit reden

Wir brauchen apologetische Kompetenz, ein ganzheitliches Bibelwissen und als dritte Lehrkategorie „Charakterbildung und Morallehre“. „Nur Charaktere hielten stand“, hat der Historiker Joachim Fest über die Widerstandskämpfer im Dritten Reich bemerkt, „nicht Gruppen und nicht Ideologien“. Gott braucht keine Helden, aber wir brauchen sie: Menschen, die sich nach den neun Früchten des Geistes ausstrecken: Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Keuschheit. Diese Tugenden können nicht erfahren, sondern müssen erlernt, ergo auch: gelehrt werden.

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