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Im Abseits der Zeugen Jehovas


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Rolf

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Im Abseits der Zeugen Jehovas






Von Doreen Hübler


Maik Globisch ist in eine Familie hineingeboren, die seit Generationen zu der umstrittenen Glaubensgemeinschaft gehört. Er ist mit 23 Jahren ausgestiegen – mit allen Konsequenzen.



Maik Globisch sortiert seine Gedanken sorgfältig. Er setzt ein Argument auf das andere, verliert nie den Faden und kommt immer zum Punkt. Auch wenn er über sein Lebens spricht, klingt das nach einem wohl überlegten Vortrag, den er genauso gut vor Hunderten Menschen halten könnte. Rhetorik, darin ist er perfekt, das hat er seit seiner frühesten Kindheit trainiert. Eine Fähigkeit, die er zu den guten Dingen zählt, die ihm geblieben sind. 27 Jahre ist er jetzt alt, die meiste Zeit hat er als Zeuge Jehovas gelebt. Seit fast vier Jahren ist Maik Globisch ein Ehemaliger, ein Abtrünniger und Ausgestoßener.

Alles war vorgezeichnet – bis auf seinen Ausbruch. Er ist in eine Zeugen-Familie hineingeboren worden, die gesamte Verwandtschaft war Mitglied der Glaubensgemeinschaft und das bereits in der dritten Generation. Man lebte in einer eigenen kleinen Normalität, erzählt er. Als Teil einer Gruppe, die Globisch in den Jahren zuvor stets als „anerkannte Religionsgemeinschaft“ bezeichnet hatte und heute „Sekte“ nennt – weil ihre Methoden sie als diese kennzeichnen würden, sagt er. Und, weil sich erst nach seinem Ausstieg Dinge verändert haben. „Jetzt fühle ich mich frei. Erst jetzt habe ich zu anderen Menschen Beziehungen, die unbelastet sind.“

Hausbesuche am Sonnabend

Kurz nach seinem Ausstieg hat er Wut empfunden. Er hat zurückgeblickt, nachgerechnet, wie viele Jahre er wohl verloren hat. Nach ein paar Monaten war das Gefühl verschwunden, der Blick nach vorn war wichtiger. „Ich habe diese Jahre als Teil meines Weges angenommen, der mich zu dem Menschen gemacht hat, der ich heute bin.“

Zeuge Jehovas – was ist das eigentlich? Darauf hat Maik Globisch schon früher in der Schule stichelnde Antworten von Klassenkameraden bekommen. Er war der Andere, einer von denen, die weder Weihnachten noch Geburtstag feiern, die Bluttransfusionen ablehnen und an fremden Türen klingeln.

Auch er machte mit seiner Familie Hausbesuche. Er war, seit er sich erinnern kann, dabei, wenn sie meist sonnabends auf Türschwellen versuchten, Menschen von ihrem Glauben zu überzeugen. Eine von vielen Pflichten im Leben eines Zeugen. Ein Wochenplan sieht etwa 14 Stunden Dienst für Gott vor, rechnet Maik Globisch nach. Regelmäßige Versammlungen sind dabei, öffentliche Vorträge und der Besuch der Theokratischen Predigtdienstschule, jener Einrichtung, in der auch er rhetorisch unterrichtet wurde. „Bei Frauen wurde vor allem der Dialog geschult, als Vorbereitung für die Situationen an der Haustür. Männer lernen, vor vielen Menschen zu sprechen.“ Auch er war ein williges Glied im Gefüge, absolvierte jeden Schritt, den die Gemeinschaft für ihn vorsah.

Seltsam fand er seine Lebenswelt nicht. „Ich wusste, dass sie anders ist als andere, aber empfand sie nicht als schlecht.“ Verschwiegen habe er seinen Glauben nie, aber gelernt, ihn zu verteidigen, irgendwann fast instinktiv. „Ich hatte immer einen soliden Stand und auch Selbstbewusstsein, aber Mobbing-Gruppen gab es immer“, sagt Maik Globisch. „Und diese Verteidigungshaltung gegenüber anderen hat sich bei mir sehr eingeprägt.“

Mit 15 wurde er „ungetaufter Verkündiger“, ein Mitglied, das den Ältesten der Jehova-Gemeinschaft nun Bericht über seine geleisteten Dienststunden erstattete. Zwei Jahre später war er bei einer großen Versammlung in einem Glauchauer Kongresszentrum. Sein Körper wurde in einem Wasserbassin komplett untergetaucht – Globisch war nun ein getaufter Zeuge Jehovas.

Kurz vorher, erzählt er, habe es Versuche der Rebellion gegeben. Er lotete Grenzen aus, so wie das Tausende andere in der Pubertät tun. Vorsichtig, zaghaft und eigentlich ohne Erfolg. Die Gemeinschaft sei subtil, erzählt Globisch, und arbeite nach einem Prinzip: „Du darfst natürlich alles freiwillig tun, aber wir empfehlen dir …“ Und so wurde ihm unter anderem ans Herz gelegt, möglichst wenig Kontakt zur sogenannten „Welt“ zu haben. Zu Menschen, die seinen Glauben nicht teilen. Deshalb hat er sich auch erst einmal für eine Ausbildung bei der Telekom in Dresden entschieden. Und erst später für ein Studium, das in den Kreisen der Zeugen nicht gern gesehen sei, dabei gäbe es zu viel Gelegenheit für Austausch mit anderen. Er wählte zwei Fächer: Informatik, das war immer eine Leidenschaft. Und Psychologie, um sich einige persönliche Fragen zu beantworten.

Die Antworten von Gott

Und es arbeitet weiter in ihm. Leise Zweifel wurden lauter, im Oktober 2007 unüberhörbar. Damals las er einen Artikel im „Königreichsdienst“, einem Verkündigungsblatt der Zeugen Jehovas. „In dem Text wurde uns untersagt, unabhängig von der Literatur der Zeugen die Bibel zu studieren.“ Er unterhielt sich mit anderen aus der Gemeinschaft und konnte das Gebot trotzdem nicht verstehen. Tage später passierte dann das, was Maik Globisch sein „spirituelles Erlebnis“ nennt. Nach einem anstrengenden Ausflug nach Berlin saß er mit einer Freundin im Auto – und „plötzlich lagen alle Antworten auf dem Armaturenbrett“, alle Zweifel und Fragen, die er an Gott und die Welt hatte, schienen klar zu sein. „Klingt abgedreht, oder?“, sagt er. Heute könnte er sich diesen Moment auch mit Rationalität und psychologischem Fachwissen erklären. „Aber warum? Ich glaube an Gott und damit auch an das Übernatürliche.“

Der Glaube hat ihm Kraft gegeben. Er stärkte ihn, als er in einem Brief an die Ältesten seinen Ausstieg bei den Zeugen Jehovas erklärte und damit einen Schlussstrich unter sein bisheriges Leben zog – mit allen Konsequenzen. Von einem Tag auf den anderen hatte er keinen Kontakt mehr zu seiner Familie, zu allen Verwandten, Bekannten und Freunden, die noch immer Zeugen Jehovas waren. Eigentlich zu seinem gesamten Umfeld. „Angst hatte ich keine“, sagt er. Auch nicht, als er verleumdet wurde.„Schon zwei Tage nach meinem Ausstieg wurden andere vor mir gewarnt“, erzählt er. Vor ihm, dem Aussteiger, der vom Gottesglauben abgefallen sei. Vor ihm, dem Verräter, bei dem doch längst eine unverheiratete Frau eingezogen sei. Nichts davon stimmte.

Heute lebt Maik Globisch in einer Wohngemeinschaft mit zwei Freunden, die er in einer Christlichen Gemeinschaft kennengelernt hat. Er glaubt nach wie vor an Gott. „Nur weiß ich jetzt, dass Gott anders ist, als die Zeugen Jehovas denken.“ Er ist in die Welt hinausgegangen und hält sogar seit einiger Zeit Vorträge, in denen er offen über seine Vergangenheit bei den Zeugen Jehovas spricht. „Am Anfang war es eine Aufarbeitung meiner Geschichte“, sagt er. „Mit der Zeit hat es sich gewandelt, jetzt hat das für mich eher einen aufklärerischen Charakter.“

Weiter ohne Weihnachten

Er ist glücklich über seine neue Freiheit, die auch Verantwortung bringt. „Denn man muss sich einen eigenen Standpunkt erarbeiten.“ Und er ist noch nicht fertig mit dem, was zurückliegt. Lange überlegt er, was er in seinem neuen Leben vermisst, wieder sortiert er seine Gedanken. Feste wie Weihnachten und Geburtstage bedeuten ihm immer noch wenig, „da sind 23 Jahre Gewohnheit einfach zu viel“. Außerdem sei das einer der Standpunkte der Zeugen Jehovas, deren Hintergrund er nach wie vor für sinnig hält. „Wenn ich auf einem Weihnachtsmarkt stehe, muss ich schon lange suchen, um den biblischen Kern zu finden“, sagt er.

Manchmal vermisst er die großen Zusammenkünfte, das frühere Gemeinschaftsgefühl. Und es gibt viele Begleiter von damals, die ihm immer noch wichtig sind. Menschen, zu denen er keinen Kontakt mehr hat, aber die ihm am Herzen liegen. Er will nicht verurteilen, das betont er auch in seinen Vorträgen. Er will seine Geschichte erzählen.

Und dann ist da noch die Verwandtschaft. Fast alle Verbindungen sind abgerissen – auch die zu seinem Bruder und dessen Familie. „Meine Nichte und meinen Neffen würde ich sehr gern sehen“, sagt Maik Globisch. „Endlich mal wieder nach dreieinhalb Jahren.“ Das ist eine tiefe Sehnsucht, die er einfach so ausspricht, ohne lange darüber nachzudenken.




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