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Zeugen zeugen Zeugen


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Rolf

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Jehovas Kinder





Zeugen zeugen Zeugen





Von Nora Gantenbrink, Dortmund

Kein Sex vor der Ehe, unzählige Bibelstunden: Wer einen Zeugen Jehovas lieben lernt, sollte Teil der Glaubensgemeinschaft werden. Am liebsten aber werden die Kinder der Zeugen untereinander verkuppelt. So werden Bezirkskongresse zur Brautschau.


Heute will sie gefallen, unbedingt gefallen und zwar nicht nur Jehova: Darum hat sie die Fingernägel lackiert, die Schuhe poliert und das neue H&M-Kleid an, die Haare sind sorgfältig hochgesteckt, geformt zu kleinen Knospen. "Seh ich schön aus, Mama?"

Ja, mein Schatz!"

Sie ist 17, mit 14 wurde sie zur Zeugin getauft. Sie ist angereist wie Tausende andere auch, denn dieser Tag ist ein besonderer Tag für sie und ihre Familie - allesamt Zeugen, allesamt bibelfest, allesamt ordentlich gekämmt, nur der eine, der Sohn, der macht Sorgen und verbringt den Tag daheim. Aber die Bibelfestigkeit der Kleinen macht den Kummer über den Großen wett.

Die Familie J. ist ins Ruhrgebiet gereist wie Hunderte andere Familien auch. Mit Wohnwagen, Tupperdosen, Kühltaschen, Wolldecken, Bibeln. Angereist zum "Höhepunkt des Jahres", wie sie es nennen. Dem Bezirkskongress der Zeugen Jehovas NRW. Dort wollen sie beten und unter Gleichgesinnten sitzen, sich nicht allein, sondern als Gemeinschaft fühlen. "Das ist unser großes Familienfest", sagt Michael Krenzer, Sprecher der Zeugen in Dortmund. Und weil es darum geht, dass diese Familie ständig wachsen soll, "finden natürlich auch viele Zeugen hier ihren künftigen Ehepartner", sagt Uwe Langhals, auch Sprecher und Zeuge, seit er 15 ist.

Die Zeugen Jehovas, einst als Sekte verschrien, haben sich mittlerweile in zwölf Bundesländern den Titel "Körperschaft des öffentlichen Rechts" erstritten. Damit haben sie denselben rechtlichen Status wie die evangelische Kirche.

Tausende kommen, doch die Öffentlichkeit nimmt kaum Notiz

In Berlin haben sich die Zeugen im Velodrom getroffen, in München im Olympiastadion, in Frankfurt am Main wird es die Commerzbank-Arena sein. Von der Öffentlichkeit werden sie kaum beachtet.

In Dortmund findet der größte Bezirkskongress der Zeugen in Deutschland statt. Denn ein Großteil der Zeugen stammt aus dem Ruhrgebiet. Dichte Besiedlung, hohe Arbeitslosigkeit. Rund 40.000 Zeugen werden an jedem der drei Veranstaltungstage in Dortmund erwartet.

Familie J. hat ihre beiden kleinen Töchter eingepackt, den großen Sohn widerwillig zurückgelassen, und jetzt stehen sie im Westfalenstadion und fallen den Brüdern und Schwestern in die Arme. Melanie J., die 17-Jährige mit Knospenhaar, hat eine Freundin in Lackschuhen getroffen und gibbelt jetzt mit ihr. Es sind viele junge Leute da. Jungs in Anzügen und aufrechtem Gang. Gottesdienste werden traditionell in Festkleidung abgehalten. "Guck mal der da", sagt Melanie. Verstohlene Blicke werden ausgetauscht. Hihihi.

Auf den ersten Blick sehen die Zeugen Jehovas aus wie die Gäste einer Silberhochzeit. Vielleicht sind ihre Röcke länger und die Kinder ordentlicher frisiert, aber sonst würde man sie wohl nur schwer einer bestimmten Glaubensgemeinschaft zuordnen können, wenn sie nicht alle die lilafarbenen Plastikschilder angesteckt hätten: "Gottes Königreich Komme!" steht darauf. Und ihr Name.

Es sind Menschen wie Familie J. oder Andreas und Stefanie Georg, die dort in den frischgefegten Reihen des Westfalenstadions sitzen. Er ist 34, sie 33, seit zwölf Jahren sind sie verheiratet, Zeugen seit kleinauf, 40 Stunden jede Woche missionieren sie, am liebsten gemeinsam. "Das ist so toll", sagt Stefanie Georg.

"Finden Sie mal jemanden, der diesen ganzen Scheiß mitmacht!"

Es sind nette und friedliche Menschen. Sie bieten Fremden Lakritz und Apfelschnitze an, legen Wolldecken um Frierende und helfen den Alten die Stufen hoch. Sie lauschen still und ergeben den Worten der Redner unten auf dem Rasen. Sie sitzen dichtgedrängt und fromm dort, wo sonst die BVB-Fans jubeln oder fluchen.

Die Bibel halten sie vor sich wie ein Silbertablett. Es ist ihr Ein und Alles, das Wort Jehovas. In der Bibel steht ihr ganzes Leben. Es gibt eine Bibelstelle, die erklärt, warum Nikotin strikt verboten, ein Glas Wein am Abend aber erlaubt ist. Warum Vollblutspenden abgelehnt und Ungläubige missioniert werden müssen. Zumindest sagen sie, dass dies da steht. Dass die Übersetzung ihrer Bibel laut der evangelischen Kirche fehlerhaft und unkritisch ist, sagen sie nicht.

Wer nicht Zeuge Jehovas ist, für den ist diese Zusammenkunft befremdlich. Es werden durchgehend irgendwelche Bibelstellen besprochen und Kirchenlieder gesungen. Zwischendurch gibt es Interviews mit Zeugen, die immer nach dem gleichem Schema verlaufen. Redner: Erzähl doch mal, wie das so ist, wenn du auf Mission gehst? Zeuge: Oh, das ist einfach wunderbar.

Deutschlandweit gibt es etwa 165.000 Zeugen Jehovas. Wie viele davon Kinder und Jugendliche sind, wird nicht erfasst. Dabei sind viele von ihnen die eigentlich Leidtragenden dieser Gemeinschaft, die das Paradies verspricht und für manche irgendwann zur Hölle wird. Und sich anmaßt, die Partnerwahl ihrer Kinder mitzubestimmen.

Ein Student namens Markus, der mittlerweile bei den Zeugen ausgetreten ist, formuliert es so: "Finden Sie mal jemanden, der diesen ganzen Scheiß mitmacht!" Seit der Geburt wurde er zu den Versammlungen im Königreichssaal geschleppt, in der Schule wurde er gehänselt, seine erste Freundin hat der Vater vor die Tür gesetzt, mit 18 Jahren zog er aus und kam nie wieder. Sein Preis für die gewonnene Freiheit und die aktuelle Freundin: Er ist "quasi elternlos".

Selbstbefriedigung und Schwule sind tabu

Es gibt eine Hochglanzbroschüre mit dem Titel "Fragen junger Leute - praktische Antworten", die an die jungen Zeugen verteilt wird. In dieser Broschüre wird Homosexualität für verboten erklärt und Selbstbefriedigung verteufelt. Auch Melanie hat diese Broschüre gelesen. Sie findet sie sehr gut.

Es seien halt so all die Sachen drin, die sie selbst kennt. Sich in der Schule als Außenseiter zu fühlen zum Beispiel. Oder falsche Sehnsüchte haben, sagt sie. Zum Beispiel? "Na, nach Sex und Selbstbefriedigung."

In der Broschüre gibt es ein Kapitel darüber, wie ein junger Zeuge prüfen kann, ob jemand der Richtige für ihn sei. Dort finden sich "Tipps", den anderen "gut kennenzulernen":

1) "Besprecht gemeinsam etwas aus der Bibel."

2) "Beobachte, wie sich der andere bei den Zusammenkünften und bei Predigten engagiert."

3) "Helft beim Reinigen des Königreichssaals und bei Bauprojekten mit."

Wie viele Jugendliche in Deutschland fegen wohl lieber einen Königreichssaal, statt an einem warmen Sommertag im Freibad zu knutschen? Warum absolvieren 17-Jährige mit Hochsteckfrisuren Bibelstunden, anstatt mit ihren Freunden im Jugendtreff abzuhängen? Was macht es mit jungen Menschen, wenn sie sich nie ausprobieren dürfen, nie unvernünftig sind und Homosexualität für eine therapierbare Verirrung halten?

"Ich war auch schon mal in einen Andersgläubigen verliebt, aber das hat nicht funktioniert", sagt Melanie. Es sei einfacher, jemanden zu haben, der dieselben Werte vertritt. Weniger Streit, weniger Konflikte, mehr stiller Gehorsam Jehovas.

Melanie wünscht sich darum als Ehemann einen Zeugen. Ihre Mutter hat ihr erzählt, dass die Ehen mit Andersgläubigen oft geschieden werden. Das soll ihr nicht passieren. Als Beleg zitiert sie eine Stelle aus der Bibel. Und manchmal, wenn Melanie J. etwas sagt, dann klingt das, als hätte man ihren Kopf aufgeklappt und eine Bibel reingelegt. "Lasst euch nicht in ein ungleiches Joch mit Ungläubigen spannen". 2. Korinther 6,14. Es gibt ein Sprichwort in der Glaubensgemeinschaft, das wesentlich kürzer ist: Zeugen zeugen Zeugen. "Es ist mir bekannt, dass es gern gesehen wird, wenn man untereinander heiratet", sagt Christoph Grotepass von der Sekteninfo NRW.

Warum die Kinder nicht innerhalb der lokalen Versammlungen einen Ehemann finden, ist leicht erklärt: Diese werden bewusst kleingehalten. Zwischen 70 und hundert Personen besuchen die wöchentlichen Versammlungen, die meisten davon sind Erwachsene. Neben den größeren Kongressen gibt es noch die Möglichkeiten der Partnersuche im Internet, dem die Zeugen traditionell skeptisch gegenüberstehen. Auf der Seite jw.match können Zeugen Zeugen daten.

"Wenn der Große kein Zeuge mehr sein will, dann wäre das ein schwerer Schlag", sagt Frau J. Ein Trost sind, wenn man so will, die beiden Töchter, 17 und 12, getauft und bibelfest.

Es sind gute Mädchen, treue Zeugen, sie sitzen im Westfalenstadion betend und wartend. Auf Jehovas Königreich. Und einen Ehemann.
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