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Störfaktor Religion


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Störfaktor Religion



Von Robert Leicht



Ein freier Staat gewährt den Kirchen keine Privilegien

Mit Politik werden wir zu tun haben, solange es Menschen gibt. Aber mit Religion? „Opium für das Volk“ – eine Sache für Süchtige, nicht für Gesunde. Religion, gar noch als Faktor der Politik – musste sie dem technisch-wissenschaftlich zivilisierten Menschen nicht als überständige, jedenfalls ständig abnehmende Ressource erscheinen? Religion und Moderne – ein Widerspruch, der sich nach und nach von selber erledigt? Inzwischen zeigt es sich allerdings, dass das rationalistische Selbstverständnis der Moderne antiquiert ist. Noch immer leben mehr – und immer mehr – Fromme auf der Welt als Atheisten, und einige werden höchst unbequem. Es mag schon sein, dass sich am Ende der Tage alle Religion als Traum herausstellt. Bis dahin aber erweist sich erst einmal die Vorstellung einer religionslosen Welt als Illusion. Wie aber soll die Politik mit der Religion umgehen?

Die Gefahren der Intoleranz

Ob wir es mit den wirtschaftlich rückständigen islamischen Staaten oder mit der modernsten demokratischen Supermacht der Welt, mit den Vereinigten Staaten, zu tun haben – so oder so wird man deren Politik nicht verstehen, ohne auch das religiöse Element in ihren Motiven zu entschlüsseln, sei es fundamentalistisch aufgeladen oder zivilreligiös moderiert. Selbst im westlichen Kontinentaleuropa, wo die Säkularisierung sich noch am ehesten durchgesetzt hat, brechen unvermutet religionspolitische Konflikte auf. Gerade in den Auseinandersetzungen um die Bioethik muss die Politik Entscheidungen treffen, die ohne Rückgriff auf letzte Fragen nach dem Menschenbild nicht zu verantworten sind. In den Schlussberatungen um die Europäische Verfassung spitzt sich der Disput um die religiösen Traditionen des Kontinents noch einmal zu. In Frankreich wie in Deutschland tobt ein Kopftuchstreit: Wie hält es der Staat mit der Religion der anderen?

Solange Religion nur als überholte, zudem als autoritäre Ressource erschien, konnte sich der militante Laizismus als zeitgemäße Bestimmung des Verhältnisses zwischen Religion und Politik darstellen. Laizismus hieß dabei nicht nur – wie in Frankreich seit 1905 – institutionelle Trennung von Kirche und Staat, sondern zugleich die vollständige Verbannung von Religion aus dem öffentlichen Raum. Aber ebenso wie die technisch-wissenschaftliche (und rein ökonomische) Rationalität sich als eine Form der geistigen Magersucht erwiesen hat, zeigt sich nun, dass dieser vormals moderne Laizismus selber in die Jahre gekommen ist. Anstatt die möglichst liberale Vielfalt aller geistigen Orientierungen in Gesellschaft und Politik nach einem allgemeinen Gesetz der wechselseitigen Freiheit zu organisieren, regelt er die Probleme auch des religiösen Pluralismus durch eine gleichmäßige Beschneidung aller: kupierte Gleichheit anstelle optimierter Freiheit. Demgegenüber könnte sich nun das religionspolitische Modell Deutschlands paradoxerweise als das liberalere erweisen.

Zwar waren hierzulande die Bündnisse zwischen Thron und Altar, die in den protestantischen Territorialstaaten bis 1918 gedauert hatten, zunächst nur in einer „hinkenden“ Trennung zwischen Staat und Kirche aufgelöst worden. Aber dieser Kompromiss kann heute größere Freiheitspotenziale entfalten als der Laizismus – freilich nur, wenn er für alle Religionen verallgemeinert wird, sofern sie den Vorrang der freiheitlichen Verfassung respektieren. Für diese Einsicht gibt es zum einen Gründe, zum anderen Voraussetzungen.

Die Gründe: Schon Alexis de Tocqueville hatte sich – als er aus der Sicht des nachrevolutionären Frankreich die Demokratie in Amerika untersuchte – gefragt, wie eine Gesellschaft zusammenhalten kann, die vom Gesetz der Gleichheit, aber auch vom Individualismus regiert wird. Tocqueville entdeckte dabei in Amerika die integrative Kraft einer staatsfreien, frei schwebenden Religion. Von Tocquevilles Diagnose führt eine direkte Linie in die Gegenwart, nämlich zu der inzwischen berühmten Formel des Verfassungsrechtlers und vormaligen Verfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Der frühneuzeitliche Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Auch der Philosoph Jürgen Habermas sucht neuerdings nach transrationalen Elementen der Verbindlichkeit in einem säkularen Staat und nach Wegen, die unerledigte Sache der Religion in einer nichtreligiösen Semantik zur Geltung zu bringen – eine Quadratur des Kreises. Wer sich auf Religion als Faktor der Politik einlässt, muss sich freilich mit dem Potenzial an Unbedingtheit, ja Intoleranz auseinander setzen, das mit fast jeder Offenbarungsreligion verbunden ist, mit den monotheistischen Religionen zumal – und wenn schon nicht in ihrer Doktrin, so doch in der historischen Praxis. Es ist schon so: Die Freiheit kann nicht die Religion beschädigen, sehr wohl aber die Religion die Freiheit. Deshalb ist jeder religionspolitische Kompromiss an zwei strenge Voraussetzungen geknüpft.

Gleiches Recht für jede Konfession

Die erste Voraussetzung für die freie Präsenz der Religion im öffentlichen Raum ist die scharfe Trennung zwischen politischer Macht und geistlicher Vollmacht. Religionsgemeinschaften dürfen nur an die freien Gewissen ihrer Anhänger appellieren und niemals Zwang ausüben. Der Staat hingegen muss oft Zwang ausüben – und hat deshalb in Sachen Religion keinerlei Kompetenz zu beanspruchen (übrigens auch nicht die Kompetenz, im vermeintlichen Auftrag Gottes die Demokratie über die Welt zu verbreiten). Das ist gewissermaßen die Kehrseite der Böckenförde-Formel: Der moderne Staat lebt zwar von Voraussetzungen, die er selber nicht garantieren kann – er darf sich allerdings auch nicht anmaßen, sie selber zu produzieren. Die Religionsgesellschaften haben keinerlei staatliches Mandat, der Staat hat keinerlei religiöses Mandat, weder positiv noch negativ. Zugespitzt ausgedrückt: Nur ein Staat, der nicht darauf aus ist, Gott abzuschaffen, kann ein wahrhaft säkularer Staat sein.

Die zweite Voraussetzung ist diese: Religionsgesellschaften können für sich nichts beanspruchen, was sie – unter dem Dach der freiheitlichen Verfassung – nicht auch allen anderen gleichermaßen zugestehen, Christen, Juden, Muslimen – Frommen wie Unfrommen. Was früher als konfessionelle Parität beansprucht wurde, muss heute als allgemeine Pluralität gelten. Freiheit in diesem Sinne, erst recht Religionsfreiheit, ist privilegienfeindlich.

Unter diesen Voraussetzungen allerdings haben Gesellschaften und Staaten, die den ziemlich unsterblichen Faktor von Religion in der Politik anerkennen, die Chance, beides zu erreichen – einen größeren Grad an Freiheit und an Verbindlichkeit, ein aufgeklärteres Verhältnis von Rechten und Pflichten. Der Laizismus ist demgegenüber nur die zweitbeste Lösung – zugleich aber die unvermeidliche Antwort auf Kirchen, die den Übergang von der Parität der Konfessionen zu der Pluralität der Religionen nicht bewältigen wollten.

Das Christentum hat gerade vor Ostern allen Grund zur selbstkritischen Revision seiner Geschichte. In hoc signo vinces – „In diesem Zeichen wirst du siegen!“, diese legendäre Kreuzes-Vision des römischen Kaisers Constantin im Jahre 312 war die fatale Wende von einer Religion des Leidens und der Liebe zu einer Religion der Macht – und zur Perversion des Verhältnisses von Religion und Politik.
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