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Esoterik und Rassendiskriminierung


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Esoterik und Rassendiskriminierung



von Marcel Alexander Niggli

(Text abgedruckt im TANGRAM Nr. 6, S. 19-21, dem Bulletin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus EKR, Bern)

Das moderne Welt- und Wissenschaftsbild
Die Moderne und der Gleichheits-Satz
Esoterik, Gleichheits-Satz und Rassendiskriminierung
Zusammenfassung / Résumé


© März 1999. Sekretariat EKR, CH-3003 Bern, Tel. 031-324 13 31; Fax: 031-322 44 37; ekr-cfr@gs-edi.admin.ch



Was hat Esoterik mit rassistischer Diskriminierung zu tun? Die kritische Distanz einer esoterischen Weltanschauung gegenüber dem modernen Weltverständnis, speziell gegenüber dem Anspruch auf ausschliessliche Geltung von Vernunft bzw. Rationalität, ist weder besonders revolutionär noch besonders gefährlich. Problematischer wird es, wenn ausgehend von der Kritik der Vernunft der Gleichheits-Satz, die vielleicht bedeutendste Wertvorstellung der modernen Zivilisation überhaupt, angegriffen wird. Dann besteht die Gefahr einer Strafverfolgung aufgrund einer Verletzung von Art. 261bis StGB.

Das moderne Welt- und Wissenschaftsbild

Grundsätzlich haben die Bereiche der Esoterik und der Rassendiskriminierung nichts miteinander zu tun; zumindest nicht notwendigerweise. Esoterik erscheint als eine Lebens- oder Weltanschauung, die primär dadurch gekennzeichnet ist, dass sie vom herrschenden modernen (aufgeklärt-rationalistischen) Weltbild abweicht. Dies tut sie insbesondere, indem sie bezweifelt, dass die Ratio den einzigen oder auch nur zuverlässigsten und leistungsfähigsten Erkenntnis- und Problemlösungsmechanismus darstelle. Folgerichtig bestreitet sie auch die Gültigkeit des herrschenden Erkenntnis- und Wissenschaftsmodells, welches sich nach wie vor am kritischen Rationalismus bzw. dem Wissenschaftsmodell von Karl Popper orientiert. Diesem Modell zufolge müssen Aussagen, so sie denn allgemeine Akzeptanz finden wollen, dem Kriterium der Falsifikation genügen, d.h. sie müssen falsch sein können. Nur wenn sie überhaupt falsch sein können, der Nachweis der Fehlerhaftigkeit aber nicht gelingt, kommt ihnen Glaubwürdigkeit zu. Auch diese Glaubwürdigkeit indes ist eine beschränkte und vorläufige. Es gibt nach diesem Modell keinen endgültigen Nachweis der Richtigkeit oder Wahrheit. Vielmehr besteht die Wahrheit einer Erkenntnis grundsätzlich nur auf Zeit, d.h. bis zum Gelingen der Falsifikation. Ob Erkenntnisse falsch sind oder nicht, muss also überprüfbar sei. Das setzt voraus, dass die in Frage stehenden Aussagen nicht höchstpersönlich sind, und dass die behaupteten Phänomene wiederholbar sind, und zwar unabhängig von Zeit, Ort oder der überprüfenden Person, insbesondere unabhängig von deren Glauben an die fragliche Aussage oder das Phänomen.

Die kritische Haltung der Esoterik einerseits gegenüber der Vernunft als primärem Erkenntnisinstrument und andererseits gegenüber dem Wissen-schaftsmodell des kritischen Rationalismus können aber weder als besonders revolutionär noch als gefährlich gelten. Vielmehr gehört es - wie das Wissenschaftsmodell des kritischen Rationalismus deutlich aufzeigt - prinzipiell zur Tradition der Aufklärung, sich selbst und den Stellenwert von Rationalität in Frage zu stellen. Vernunft im Sinne der Aufklärung ist weitgehend identisch mit Vernunftkritik (man denke nur an Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft), und Moderne läuft immer parallel zur Kritik der Moderne, wie gerade heute die sogenannte Postmoderne belegt. Auch dem kritischen Rationalismus ist - und zwar aus den Reihen der klassischen Wissenschaftstheorie - seit langem bereits Kritik erwachsen (z.B. Paul Feyerabend, Bruno Latour). Die kritische Distanz einer esoterischen Weltanschauung gegenüber dem modernen Weltverständnis, speziell gegenüber dem Anspruch auf ausschliessliche Geltung von Vernunft bzw. Rationalität, ist also per se völlig unproblematisch und auch nicht aussergewöhnlich.

Die Moderne und der Gleichheits-Satz

Problematischer erscheint, dass einzelne Vertreter eines esoterischen Weltbildes dazu neigen, Rationalismus und Moderne gleichzusetzen und von einer Ablehnung des Rationalismus - bewusst oder unbewusst - zu einer wesentlich umfassenderen Ablehnung der Moderne übergehen. Problematisch daran ist, dass damit auch grundsätzliche Wertvorstellungen abgelehnt oder in Frage gestellt werden, die heute als Grundlage jeder zivilisierten Rechtsgemeinschaft gelten, namentlich der Grundsatz der Gleichwertigkeit und (als dessen Folge) der Gleichberechtigung.

Der Grundsatz der Gleichwertigkeit aller Menschen ist allerdings nicht das Ergebnis der Konzentration auf die Vernunft, sondern deren Vorbedingung. Folgt man der Aufklärung in der Definition ihrer selbst und versteht unter Aufklärung «den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit» (Kant), dann besteht die «Entzauberung der Welt» durch die Aufklärung primär darin, dass nicht mehr übermenschliche oder göttliche Prinzipien das Fundament der Welt bilden, sondern der Mensch selbst. Mit dem Fokussieren auf den Menschen ist indes erst der kleinere (unwichtigere) Grundstein des modernen Weltbildes gelegt. Grundsätzlich nämlich liessen sich - trotz des Abstellens auf den Menschen selbst als Fundament der Welt - beliebige Kriterien als massgebend formulieren, die am Menschen anknüpfen (z.B. bestimmte Fähigkeiten, Aussehen, Abstammung, geographische oder nationale Herkunft etc.). Die kardinale Revolution der Aufklärung liegt nun darin, dass sie alle erwähnten Kriterien verwirft und grundsätzlich davon ausgeht, dass alle Menschen im Kern gleichwertig sind, einfach deshalb, weil sie Menschen sind (Gleichheits-Satz). Weil alle Menschen gleichwertig sind, kommt jedem Menschen von Geburt an Würde zu (die sogenannte Menschenwürde), ganz unabhängig davon, ob er sich würdevoll verhält oder nicht. D.h. jedem Menschen kommt - unabhängig von allen anderen Kriterien - grundsätzlich und aus Prinzip der Anspruch zu, als menschliches Wesen respektiert und geachtet zu werden. Dieser Sicht folgend müssen jedem Menschen auch bestimmte Grundrechte zustehen, die sogenannten Menschenrechte. Alles andere als Zufall ist entsprechend, dass die Aufklärung zeitlich parallel läuft mit dem Postulat der Toleranz, dem Streben nach religiösem Frieden und gegenseitiger Akzeptanz (deutlich sichtbar etwa in der Gleichberechtigung der jüdischen Mitbürger).

Erst der Gleichheits-Satz und damit das Verneinen einer grundsätzlichen Bedeutung von Eigenschaften wie Fähigkeit, Herkunft oder Aussehen etc. begründet für die Aufklärung die Notwendigkeit, ein anderes massgebendes Kriterium zu finden, welches jedem Menschen zukommt. Und dieses Kriterium erkennt die Aufklärung eben in der Vernunft, der Ratio. Entsprechend besteht der Prozess der Aufklärung (in der Sprache der Aufklärung selbst) darin, dass der Mensch sich aus seiner Abhängigkeit von metaphysischen Glaubenssystemen befreit. Seine Unmündigkeit ist selbstverschuldet, weil ihm die Vernunft zur Verfügung stünde, und der Ausgang aus dieser Unmündigkeit wird ermöglicht durch den Gebrauch der Vernunft (sapere aude; wage es, zu wissen). Die Bedeutung und das Gewicht von Rationalität ergeben sich damit erstens nicht zwingend aus dem Gleichheits-Satz und zweitens erst als Folge der essentiellen Gleichwertigkeit aller Menschen. Bestreitet man also die Vorrangstellung der Vernunft, dann folgt daraus nicht notwendig auch das Bestreiten des Gleichheits-Satzes, auch wenn - wie bereits gesagt - die grundsätzliche Ablehnung der Aufklärung dazu verführen mag.

Gar nicht genug betont werden kann, dass die Vorstellung von der essentiellen Gleichwertigkeit aller Menschen unabhängig von allen anderen Kriterien, eine Wertung darstellt, d.h. eine Vorstellung, die sich nicht weiter ableiten lässt. Man kann diese Wertung teilen oder eben nicht. Zu widerlegen ist sie - eben weil es eine Wertung ist - prinzipiell nicht. Gerade weil der Gleichheits-Satz eine Wertung darstellt und damit Nichts, was sich automatisch, notwendig oder von selbst ergäbe, muss er jeden Tag aufs Neue verteidigt werden. Dies ist denn auch der Sinn von Art. 261bis StGB, dem Rassendiskriminierungsverbot.

Esoterik, Gleichheits-Satz und Rassendiskriminierung

Damit ist auch gesagt, wo die Beziehung von Esoterik und Rassendiskriminierung beginnt: Wer immer den Schritt von der Kritik der Vernunft oder dem herrschenden Wissenschaftsmodell hin zur Ablehnung des Gleichheits-Satzes tut, der greift damit die vielleicht bedeutendste Wertvorstellung der modernen Zivilisation überhaupt an. Entsprechend läuft er Gefahr einer Strafverfolgung aufgrund einer Verletzung von Art. 261bis StGB. Denn ein Bestreiten des Gleichheits-Satzes ist einerseits unzulässig, weil erst diese Wertposition ein friedliches Zusammenleben zu begründen vermag. Gilt der Gleichheits-Satz nicht, dann ist damit auch vorgegeben, dass abweichende Positionen je nach den Umständen bekämpft und vernichtet werden dürfen. Unzulässig ist die Ablehnung des Gleichheits-Satzes aber auch, weil erst der Gleichheits-Satz (und damit die Vorstellung, dass jedem menschlichen Wesen ein Mindestmass an Würde zukomme, das es zu respektieren gilt) Grundlage bildet für die Grund- bzw. Menschenrechte. Wer immer sich auf ein Menschenrecht wie Meinungsäusserungs- oder Religionsfreiheit beruft, beruft sich damit notwendig auch auf den Gleichheits-Satz, denn die erwähnten Rechte kommen ihm nur zu, weil er als menschliches Wesen - ohne Ansehen der Person, Herkunft oder Zugehörigkeit zu einer Gruppe - Anspruch hat auf ein Mindestmass an Achtung und Respekt. Es ist mithin nicht möglich, sich auf eines dieser Rechte zu berufen - sei es nun unter dem Titel der Esoterik, der Religion oder der Politik - und dennoch den Gleichheits-Satz zu bestreiten.

Immer dann, wenn eine esoterische Position die essentielle Gleichwertigkeit aller Menschen - ausdrücklich oder implizit - bestreitet, begibt sie sich - ebenso wie jede andere Position - in den Bereich der Rassendiskriminierung und damit auch in den Bereich strafbaren Verhaltens. Dabei hilft es auch nichts, sich auf ein anderes Erkenntnismodell oder ein anderes Weltbild zu berufen. Denn der Gleichheits-Satz ist nicht an ein bestimmtes Weltbild oder Erkenntnismodell gebunden, wie bereits ausgeführt.

Wer mithin die Gleichwertigkeit aller Menschen bestreitet, sollte sich also nicht vormachen, er tue dies aus Notwendigkeit oder es handle sich dabei um eine Kleinigkeit. Gerade weil Esoterik grundsätzlich nicht mit Rassendiskriminierung verknüpft ist, hat derjenige, der die essentielle Gleichwertigkeit der Menschen bestreitet, dafür einzustehen, dass er ohne Notwendigkeit eine Wertung trifft, die andere in ihrer Menschenwürde verletzt und folglich nicht akzeptabel ist. Wer dies tut, vertritt eine rassistische Position, ist ein Rassist. Entsprechend wird strafbar jeder - also auch jeder Esoteriker - , der rassistisches Gedankengut verbreitet, sei dies nun mittels Vorträgen, Verkauf von Publikationen oder Leserbriefen etc. Die Strafbarkeit gründet dabei nicht in der Ablehnung der Esoterik, sondern einfach darin, dass keine Weltanschauung, sei sie nun religiös, politisch oder esoterisch geprägt, ein Anrecht gibt auf die Verletzung der Menschenwürde anderer.


Marcel A. Niggli
Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie an der Universität Freiburg i.Ue. Verfasser eines Kommentares zu Art. 261bis StGB (Zürich: Schulthess 1996).


Zusammenfassung

Der Autor untersucht das Verhältnis von Esoterik und Rassendiskriminierung und kommt zum Schluss, dass keine notwendige Beziehung besteht. Allerdings verleitet eine Ablehnung des Rationalismus als Kernstück der Moderne dazu, die Moderne insgesamt abzulehnen. Geschieht dies, und wird insbesondere der Gleichheits-Satz abgelehnt, so begibt man sich in den Bereich der strafbaren Rassendkriminierung (Art. 261bis StGB), sofern man solche Positionen verbreitet.

Résumé

L'auteur analyse le rapport entre ésotérisme et discrimination raciale et arrive à la conclusion qu'il n'existe pas forcément de lien. Mais toujours est-il que le rejet du rationalisme en tant que pièce maîtresse de la pensée moderne revient à rejeter celle-ci. Or, dans la mesure où l'on poursuit sur cette voie en refusant le principe de l'égalité et en répandant de telles théories, on se retrouve dans le domaine de la discrimination raciale réprouvée par la loi (art. 261bis du CP).


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