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Charismatischer und pietistischer Fundamentalismus


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Rolf

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Charismatischer und pietistischer Fundamentalismus




Fundamentalismus ist eine ideologische Haltung, welche die unbequeme, aber für eine demokratisch orientierte Gesellschaft wichtige Frage, wer bestimmt, was gilt, von vorneherein mit einem bestimmten Lehrdogma, mit der Kompetenz bestimmter Personen oder mit bestimmten Methoden der Erkenntnisgewinnung beantwortet und die daraus abgeleiteten Lehrsätze als unfehlbar und absolut verbindlich erklärt. In der Verteidigung ihrer Erkenntnisgrundlagen zeigen Fundamentalisten in der Regel eine typische "Bunkermentalität": Unnachgiebigkeit, Unversöhnlichkeit, Isolierung im Wir-Gefühl der eigenen Gruppe und im Bewusstsein besonderer Auserwähltheit, Neigung zu Personenkult und fraglos-demütiger Nachfolgschaft, unkooperative Haltung aufgrund radikal dualistischer Aufteilung der Welt in Gut und Böse, gläubig und ungläubig, und Diskursunfähigkeit. Fundamentalisten diskutieren nicht, sondern predigen, erörtern nicht, sondern stellen fest, suchen und fragen nicht, sondern haben - zumindest was die Grundlagen ihrer Erkenntnisgewissheiten anbelangt - bereits entschieden. Sie halten sich für die einzigen Rechtgläubigen. Wer anderer als ihrer Meinung ist, liegt grundsätzlich falsch (Wolfgang Beinert, hrsg. 1991, 66ff).

Christliche Fundamentalisten legen sich meistens auf die absolute und unfehlbare Wahrheit der Bibel als "inspiriertes Wort Gottes", das wie ein Gesetzeswerk fürs Leben zu lesen sei, oder auf die absolute Autorität eines bestimmten Kirchenamtes (Papst, Stammapostel, Prophet) oder einer bestimmten Kirchentradition fest. Die Attribute "charismatisch" und "pietistisch" verweisen auf unterschiedliche Stile bibelfundamentalistischer Weltaneignung, wobei beide Ausprägungen in der Regel Teilströmungen innerhalb der evangelikalen Bewegung bilden.

Pietismus ist eine Frömmigkeitsbewegung mit Wurzeln im Europa des 19. Jahrhunderts. Sie betont, dass echte christliche Glaubenserfahrung nur über die persönliche Busse und Bekehrung zu oder Wiedergeburt in Jesus Christus geschehen kann, und hat sich einer ständigen Suche nach Heils- und Glaubensgewissheit verschrieben (Perfektionismus). Der pietistische Stil zeichnet sich durch Evangelisationsveranstaltungen aus, die eindringlich die zutiefst sündige Natur des Menschen herausstreichen und daraus die unausweichliche Notwendigkeit der Bekehrung und der gehorsamen Nachfolge ableiten. Typisch ist auch das regelmässige Bibelstudium in kleinen Hauskreisen oder einschlägigen Bibelschulen, das entsprechend von engen und oft auch vereinnahmenden sozialen Milieus geprägt ist.

Die charismatische Bewegung hat ihren Ursprung in der Pfingstbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Amerika und erlebt heute eine Renaissance u.a. über die Vineyard-Bewegung (Toronto Segen). Sie überspitzt die vergleichsweise eher nüchterne Bekehrungsarbeit der Pietisten, indem sie betont, dass echte christliche Glaubenserfahrung erst im persönlichen Erfülltwerden mit einem sogenannten Heiligen Geist geschieht (Geisttaufe). In charismatischen Gottesdiensten wird die Anhängerschaft gewöhnlich durch demagogische Predigten und euphorisierende Gruppenrituale emotional aufgeladen, bis manche in eine tranceartige Verzückung geraten, wirre Laute oder prophetische Visionen von sich geben (Zungenreden) oder gar ohnmächtig umfallen (Ruhen im Geist). Charismatiker interpretieren diese Phänomene als "Charisma", als die Gaben des Heiligen Geistes, wie sie im Pfingstereignis der Bibel beschrieben werden. Durch das göttliches Wirken des Heiligen Geistes werden oft wundersame Heilungen schwerster Krankheiten versprochen und auch vermeintlich böse Dämonen ausgetrieben (Exorzismus, christlicher Okkultismus).

Gibt es interne Gratifikationen und Möglichkeiten, mehr als die andern zu erreichen, mehr Zuwendung, mehr Beachtung? Die Möglichkeit einer internen Karriere?

Ja, das gibt es.



Sie konnten dort diese Art Karriere machen?

Ja (lacht). Als ich das ganze Angebot der GfU ausgeschöpft hatte - ich hatte zweimal an Grossevangelisationen teilgenommen, die Kurse besucht und alles mitgemacht, was unsere Gemeinde zu bieten hatte - dachte ich, das kann es ja wohl nicht gewesen sein. Ich schaute mich nach weiteren Entwicklungsmöglichkeiten um und bin einem Propheten begegnet, der mir sagte: Gott hat Grosses mit Dir vor. Ich fand eine andere Gemeinschaft, eine Splittergemeinschaft des CEVI in Thun. Sie suchten gerade neue Vorstandsmitglieder, und so stiess ich dazu. Ich sorgte dafür, dass dieser Prophet einmal im Monat zu uns kam. Er fragte mich, ob ich von ihm prophetisches Beten lernen wolle und ob ich als Mitarbeiterin an seinen Seelsorgeseminaren teilnehmen wolle. Natürlich wollte ich. So kam ich rasch weiter. In unserer Gemeinde habe ich auch manchmal in der Funktion der Gemeindeleitung eine Predigt gehalten, das Abendmahl ausgeteilt und einfach alles gemacht, was dazugehört. Das war nach dreieinhalb Jahren Christsein.


Die Gemeinde für Urchristentum

Die Gemeinde für Urchristentum (GfU) ist eine charismatisch-fundamentalistische Gruppe, die dem "Bund Pfingstlicher Freikirchen" und über diesen dem evangelikalen "Verband evangelischer Freikirchen und Gemeinden in der Schweiz" angehört. Sie entstand 1927 durch die Missionstätigkeit des süddeutschen Ehepaars Drollinger im Berner Oberland (Frutigen, heute: Thun). Zusammen mit der Schweizerischen Pfingstmission führt sie in Emmetten (NW) die "Internationale Bibelschule Gunten-Emmetten".

Cevi Schweiz
(Korrigierte Darstellung, vgl. auch Gegendarstellung)

"Cevi" steht umgangssprachlich für Christlicher Verein Junger Männer (CVJM) resp. Christlicher Verein Junger Frauen (CVJF). Er hat pietistische Wurzeln und entstand 1844 in London als Young Men's Christian Association (YMCA), resp. 1894 als Young Women's Christian Association (YWCA). Der Cevi sieht seine Mission interkonfessionell, übergemeindlich und international ausgerichtet. In der Schweiz schlossen sich die CVJM- und CVJF-Dachverbände 1997 zum Cevi Schweiz zusammen. Die heterogene Bewegung hat 22'000 Mitglieder. In ihrer Kinder- und Jugendarbeit kooperieren die Ortsgruppen in der Regel mit evangelisch-reformierten Kirchgemeinden und einigen Freikirchen.

In seiner Ausrichtung bezieht sich der Cevi Schweiz auf eine "Pariser Basis" von 1855 und eine "Kampala-Erklärung" von 1973. Die Pariser Basis beschreibt den Zweck der CVJM-Arbeit im Zusammenbringen junger Männer, "welche Jesus Christus nach der Heiligen Schrift als ihren Gott und Heiland anerkennen, in ihrem Glauben und Leben seine Jünger sein und gemeinsam danach trachten wollen, sein Reich unter den jungen Männern auszubreiten." Die Kampala-Erklärung erweitert dieses Ziel mit dem Streben nach Chancengleichheit und Gerechtigkeit für alle, Schaffung einer von Liebe und Verständnis geprägten Umwelt sowie der Förderung von Programmen, die der Vielfalt und Tiefe christlicher Erfahrung und der "Entfaltung des ganzen Menschen" dienen.

Ich nehme an, irgendwann kamen dann die ersten Differenzen. Was ist passiert?

Es gab Spannungen in der neuen Gemeinschaft. Unser Leiterehepaar vertrat je länger je mehr eine eigene Sichtweise. Die Eingebungen und Aufträge, die es angeblich von Gott erhielt, waren völlig unkritisierbar, unkorrigierbar. Die zehn Personen im Vorstand waren nicht immer einverstanden, doch deklarierten sie ihr Unbehagen nicht deutlich genug. Diese Unfähigkeit, miteinander zu sprechen, ging mir an die Substanz. Es entstanden Untergruppen und verhärtete Fronten. Zudem gab es vermehrt Widersprüche, die mit der Zeit immer offensichtlicher wurden. Ich denke z.B. an die Aussage, dass man von Gott bedingungslos geliebt wird. Dies stand plötzlich im Gegensatz zu all den Sünden, die man täglich bekennen musste. All die Anforderungen, die in den Paulus-Briefen stehen und wortwörtlich übernommen wurden, glichen einer Drohfingerpredigt: Wer sich nicht heiligt, wird Gott nicht sehen. Wenn Du dies oder jenes nicht erfüllst, wird Dich Jesus nicht annehmen. So steht's in der Bibel. Alles wurde immer mit der Bibel begründet. Sogar die Widersprüche.

Man gibt sich völlig auf, seine Gedanken, seine Gefühle. Das eigene Ich wird begraben. Gleichzeitig besteht eine permanente Unsicherheit, ob man nun wirklich dabei ist. Ich litt unter diesem Zwiespalt. Irgendwann kam bei mir der Moment, wo ich dachte, entweder schnappst Du nächstens über oder Du hörst sofort auf mit dem ganzen. Das war schliesslich die Konsequenz.

Das war sicher eine längere Phase. Wie erlebten Sie die Zeit, als die Unsicherheit wuchs, als Sie mit sich gerungen haben? Wie haben Sie darauf reagiert?

Zu Beginn bezog ich alles auf mich und meinte, ich glaube zu wenig. Wenn man den Leuten aus der Gemeinschaft von seinen Zweifeln erzählte, wurde gleich nach unentdeckten Sünden gesucht. Den Fehler habe ich nie im System gesucht, sondern nur bei mir. Bis es einfach nicht mehr ging.

Was war das für ein Punkt?

Es war ein innerer Punkt in meinen Gedanken. Ich sah in mich hinein und stand vor einem riesigen schwarzen Loch. Ich hatte das Gefühl, wenn ich noch einen Schritt weitergehe, dann falle ich tatsächlich in ein schwarzes Loch, und man kann mich in eine psychiatrische Klinik einweisen. An diesem Punkt wurde mir klar: jetzt muss ich aufhören und mich vom "frommen Zirkus" lösen.



War das von einem Tag auf den anderen möglich?

Als ich an diesem Punkt angekommen war, kündigte ich sofort. Ich war ja als Seelsorgerin und Gemeindeleiterin angestellt. Ich hatte einen Monat Kündigungsfrist, den ich irgendwie überstanden habe. Diese Distanzierung war wirklich ein grosser Schritt für mich, den niemand innerhalb der Gemeinschaft verstand. Sie argumentierten: Du hast Dich so lange eingesetzt, warst so lange aktiv für Jesus, jetzt kannst Du doch nicht einfach aufhören!

Waren Sie auf diesem Weg ganz allein oder erhielten Sie Hilfe von aussen?

Hilfe erhielt ich letztlich nur von meiner Mutter. Alle Freundinnen und Kollegen in der Kirche meinten, dass wohl doch noch irgendwo ein rebellischer Dämon in mir stecke, den man noch nicht entdeckt hat. Man hat mir alles Mögliche angedichtet, sich aber schliesslich damit abgefunden, dass nichts mehr zu machen war. Nun ja, so kam ich der Gemeinschaft abhanden. Nach meinem Ausstieg erhielt ich keinen einzigen Telefonanruf. Niemand aus der Gemeinschaft versuchte, mit mir Kontakt aufzunehmen. Von einem Tag auf den anderen gab es mich einfach nicht mehr. Seit dem halben Jahr, in dem ich nun als Beraterin tätig bin, werde ich gar als Feindin von Jesus abgestempelt. Das ist die Realität an einem Ort, an dem man immer von Liebe spricht.

Aus dem Publikum: Haben während ihrer euphorischen Zeit Aussenstehende versucht, Sie zum Austritt zu bewegen?

Mit Aussenstehenden hatte ich gar keinen Kontakt mehr. Das war ja auch nicht nötig. Ich brauchte niemand anderen mehr. Wer nicht bekehrt, nicht christlich war, interessierte mich nicht. Ungläubige waren für mich Kinder des Teufels und deshalb gefährlich, eine Gefahr, mich vom richtigen Weg abzulenken. Da ging ich automatisch auf Distanz.

Können Sie noch etwas über die Zeit nach dem Austritt erzählen? Wie haben Sie diese Zeit überstanden, wie ging es weiter?

Ich fiel in ein Riesenloch. Ein halbes Jahr lang tat ich nichts. Ich arbeitete nicht, war immer zuhause und orientierte mich nur am Stundenplan meiner Kinder. Vielleicht kann man das Depression nennen. Ich brauchte die Zeit, um über alles nachzudenken, habe aber bewusst nichts gelesen. Ich wollte einfach nur diese Zeit überstehen. Dann wollte ich wieder arbeiten, etwas ganz Normales. Ich fragte mich nach meinen Bedürfnissen, was nicht einfach war, denn genau das hatte mir die Gemeinschaft abgewöhnt: eigene Gefühle und Gelüste zu haben. Ich wollte im Strandband in einem Kiosk arbeiten und schaffte es: einen ganzen Sommer lang verkaufte ich Bonbons und Glacé und freute mich darüber, dass ich eine ganz normale Arbeit hatte. Im Herbst suchte ich einen anderen Job und fand eine Halbtagsstelle in einem Büro, wieder etwas ganz Normales und nichts Christliches. In den folgenden drei Jahren habe ich aktiv zu vergessen versucht, was hinter mir lag. Ich hatte überhaupt nichts mehr mit Christen zu tun. Nach diesen drei Jahren kam das Bedürfnis, etwas aus meinen Erfahrungen zu machen. Ich lernte Erwachsenenbildnerin. Ich holte die ganzen Erinnerungen wieder hervor, indem ich mich im Rahmen der Diplomarbeit ausgiebig mit Religion und Christsein befasste, diesmal aus einer anderen Perspektive, aus Bildungssicht: Wie bildet man Menschen? Wie werden biblische Aussagen dazu benützt, Menschen abhängig zu machen?

Wäre es vermessen zu sagen, dass ihr heutiges Engagement ein Versuch ist zu bestätigen, dass nicht alles umsonst war?

Ich kann nicht ausschliessen, dass das zutrifft. Allerdings habe ich nicht den Eindruck, alles sei umsonst gewesen. Tatsache ist aber, dass ich in der Zeit des Ausstiegs oder in der Phase davor, als ich aussteigen wollte und kämpfte, niemanden gefunden habe, der mich beraten und mir helfen konnte. Ich unternahm einige Anläufe und landete immer wieder bei frommen Leuten, auch bei einem frommen Pfarrer innerhalb der Landeskirche. Irgendwie zog ich das wohl an. Diese Berater arbeiten nach dem mir bekannten Muster: die Bibel steht im Mittelpunkt, und der Mensch wird ihr angepasst. Wieder wollte man mich in eine bibeltreue Form pressen. Deshalb bin ich auf die Idee gekommen, eine andere Art der Beratung anzubieten. Ich brauche diese Tätigkeit also nicht, um etwas wieder gut zu machen. Die Leute, die in meine Beratung kommen, bestätigen die Notwendigkeit meiner Arbeit. Zum Beispiel erzählte mir gerade heute morgen eine Frau, sie sei nun schon seit über zehn Jahren ausgetreten, und die Sache mache ihr immer noch zu schaffen. Sie habe bis jetzt keinen Berater gefunden, der sie verstehe, der wisse, wovon sie spricht, wenn sie erzählt, wie sie sich in den Predigten unter Druck gesetzt fühlte. Wer das nicht kennt, sagt noch schnell einmal: Das ist ein Fall für die Psychiatrie!

Sie sagten vorher, Sie haben eine eigene Sprache, eine eigene Terminologie gelernt. Vermutlich fühlen sich die Ratsuchenden daher sehr verstanden, weil sie diese Übersetzungsarbeit nicht mehr leisten müssen.

Ja, so ist es.

Die Zeit ist leider um. Gibt es etwas, was Sie noch sagen möchten, was Ihnen wichtig ist?

Zum Thema Frauen möchte ich noch anfügen: Ich staune, dass die Frauen in der Gemeinschaft akzeptieren, dass sie den Männern untertan sein sollen. Keine wehrt sich dagegen, einige verteidigen diese Haltung sogar. Es gibt auch Frauen, die Kopftücher tragen, weil es heisst, die Frau sei die Verführerin des Mannes und sie sei selber schneller verführbar. Ich frage mich, warum Frauen im 21. Jahrhundert noch Derartiges glauben können. Auch hier steht es eben in der Bibel geschrieben. Für alles findet man einen passenden Text, der den Willen Gottes bestätigt. Mit der Bibel hat man immer recht.

Aus dem Publikum: Als Frau kamen Sie aber doch recht weit nach oben.

Ja, aber immer unter der Leitung von Männern. Ich wurde vom Gemeindeleiter beauftragt, ich dürfe das nächste mal eine Predigt halten. Er schrieb mir aber nicht vor, worüber.


Aus dem Publikum: Wurden Sie kritisiert?

Ja, denn nicht immer vertrat ich Meinungen, die ins Schema der Gemeinschaft passten. Zum Beispiel sprach ich über Heuchelei. Ich sagte, es sei Heuchelei, was wir hier tun. Das wurde natürlich überhaupt nicht akzeptiert. Das war aber bereits in der kritischen Phase meiner Mitgliedschaft. Und es war auch das letzte Mal, dass ich predigte.




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