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Der einsame Tag des Herrn


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Rolf

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Der einsame Tag des Herrn





Pfarrer Alfredo Rockstroh betreut zehn Gemeinden in Sachsen-Anhalt. Häufig hält er drei Gottesdienste hintereinander in beinahe leeren Kirchen. Eine Sonntagstour

Es ist halb neun. Die Lerche singt, und um die Heckenrosen schwirren Insekten. Drinnen im Pfarrhaus ist Alfredo Rockstroh seit einer guten Stunde auf den Beinen. Er hat gefrühstückt, Zwiesprache mit Gott gehalten und ist die Predigten noch einmal durchgegangen. Nun schiebt er den Talar in die Aktentasche. Das Dorf Möringen, das bei Stendal in Sachsen-Anhalt liegt, ist wie ausgestorben. Einsam rollt das Auto an den Backsteinhäusern vorbei. Der vierte Sonntag nach Trinitatis ist für Pfarrer Rockstroh ein langer Arbeitstag. Rockstroh ist dunkelblond, hat blaue Augen und eine Brille. In ein paar Tagen wird er 50 Jahre alt. Im Pfarrhaus residiert er allein. Seine Frau leitet ein Seniorenheim in Burg und wohnt in Parchen, 40 Autominuten entfernt. Auch die drei erwachsenen Kinder leben woanders.

Alfredo Rockstroh betreut zehn Gemeinden, die alle westlich der Elbe in der Altmark liegen, einem fruchtbaren Landstrich, einst eine der Kornkammern Deutschlands. Jedes Dorf ist etwa alle drei Wochen mit dem Gottesdienst dran. Auf diese Weise hält Rockstroh sonntags oft zwei oder drei Gottesdienste hintereinander ab. Viele Landpfarrer in der Gegend arbeiten so. An diesem Vormittag sind zunächst Nahrstedt und Tornau an der Reihe. Nahrstedt ist fünf Kilometer von Möringen entfernt. Der Pfarrer fährt in ein Wäldchen hinein. Etwas Graues hoppelt über die Straße. Rockstroh bremst. "Im Dunkeln muss man besonders vorsichtig sein", erzählt er von abendlichen Ausflügen. "Feldhasen bleiben oft im Lichtkegel sitzen und werden dann überfahren." Er ist auf einem Bauernhof im Unstruttal aufgewachsen - mit allem Vieh, das auf dem Land gedeiht. Privat setzt er sich für Tierschutz ein. Nahrstedt hat etwa 300 Einwohner.

Zwei von ihnen stehen zehn vor neun in der Feldsteinkirche aus dem 12. Jahrhundert, der 67-jährige Ewald Laudon und der 47-jährige Hans-Georg Düwert. Beide sind ehrenamtlich als Kirchenälteste tätig. Das heißt, dass sie Aufgaben in der Gemeinde übernehmen und den Pfarrer beim Gottesdienst unterstützen. Heute sind sie spät dran. Alfredo Rockstroh schimpft: "Eine halbe Stunde vorher sollte die Kirche geschmückt sein." Düwert holt eine Decke für den Altar, und Laudon zaubert von irgendwoher einen Rosenstrauß herbei. Der Pfarrer zieht den Talar über das weiße Hemd und die schwarze Hose. Die Glocken läuten. Eine ältere Dame humpelt durch das Spalier aus Linden auf die Kirche zu. Alfredo Rockstroh ist erleichtert.

Neun Uhr. Die Morgensonne bricht durch die Fenster. Über dem Altar ist eine Jesusfigur an einer Eisenkette befestigt. Eine Spinne klettert auf den Teppich. "Jesus Christus spricht: Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen", sagt der Pfarrer. Sie seien ja zu viert. Er redet vom Auftanken bei Gott und davon, dass die Natur vom Regen wunderbar erfrischt sei. Der Platz an der Orgel ist leer geblieben. Rockstroh spielt eine Melodie auf seiner Flöte und stimmt a capella das Lied "Morgenlicht leuchtet" an. Die drei Gemeindeglieder fallen ein. Der Wochenspruch lautet diesmal: "Einer trage des anderen Last. So werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen."

Nach dem Gottesdienst zählen die Kirchenältesten die Kollekte: 10,50 Euro. Die Summe wird in ein Buch eingetragen. Dass heute so wenige Leute da sind, liege an den Ferien, entschuldigt sich Ewald Laudon. Sonst seien sie ungefähr zu zehnt. Der pensionierte Verkaufsstellenleiter erklärt auch, warum der Pfarrer unbedingt weiter zu ihnen nach Nahrstedt kommen solle: "Wir Altmärker sind stur." In die Kirche des Nachbardorfes gehen? "Höchstens zu besonderen Anlässen." Am Ostersonntag etwa. Dieses Jahr nahmen am Gottesdienst morgens um sechs Uhr mit anschließendem Frühstück 60 Menschen teil, darunter viele Konfirmanden mit ihren Freunden. Darauf ist Rockstroh, darauf sind die Kirchenältesten stolz. "Uns fehlen die Jungen", sagt Hans-Georg Düwert, der Tischler ist. "Sie ziehen weg, der Arbeit hinterher."

Alfredo Rockstroh schüttelt Hände, dann muss er ins Auto. Kurz darauf schaut der Pfarrer weit, weit über das platte Land. Seinen Traumberuf hat er ergriffen. Als er während seiner landwirtschaftlichen Ausbildung in den 70er-Jahren Tagungen des Jungmännerwerkes besuchte, einer evangelischen Jugendorganisation in der DDR, stand für ihn fest, dass sein Weg zu Gott führen sollte. Alfredo Rockstroh schickte den Immatrikulationsbescheid für das Fach Pflanzenproduktion an die Uni Halle zurück und schrieb sich im Sommer 1978 an der Kirchlichen Hochschule Naumburg ein. Kurz darauf wurde er zu den Bausoldaten eingezogen - ein Wehrersatzdienst. Wer sich in der DDR für diesen Weg entschied, hatte es schwer. Rockstroh sagt, er habe nie die direkte Konfrontation mit den Vertretern des Staates gesucht, eher nach einer gemeinsamen Gesprächsbasis.

Tornau hat 130 Einwohner, und der Pfarrer hat es eilig. Um 10.15 Uhr beginnt der Gottesdienst. Auch wenn nur wenig Menschen kommen, hat Rockstroh immer noch Lampenfieber. Aber keine Aufregung hieße: keinen Respekt mehr vor der Verantwortung. Die Kirche wurde ab 1836 im klassizistischen Stil erbaut, zu einer Zeit, in der es den Dörflern wohl besser ging als heute. Stolze Bauern gingen selbstverständlich mit ihren Familien in den Gottesdienst. Heute bröckelt ein wenig Putz. Sieben Frauen sitzen auf den hinteren drei Bänken. Die Jüngste ist Mitte 40. Sie singen a capella. "Wir haben ein Harmonium, aber es ist schon altersschwach", erzählt später eine.

Die Frauen sind trotzdem froh über ihre Kirche. Zum Gottesdienst ins nahe Stendal fahren? Kopfschütteln. "In der Stadt bin ich ein kleines Licht", sagt eine Lehrerin. "Viele Ältere haben außerdem kein Auto." Sie bedauert, dass kaum noch Kinder in Tornau leben. In den 90er-Jahren brachen in der Region die landwirtschaftlichen Betriebe zusammen. Jobs gibt es, wenn überhaupt, in Krankenhäusern der Umgebung, in Läden und Behörden. In der DDR-Zeit wandten sich die einst so religiösen Altmärker vom Glauben ab, auch aufgrund des staatlichen Drucks. Nur wenige Menschen lassen ihre Kinder noch taufen. Immerhin: "Wir haben unseren Pastor", sagt eine OP-Schwester und setzt halb im Ernst, halb im Scherz hinzu: "Er ist unser Hirte." Eine ältere Dame zupft Alfredo Rockstroh den Kragen zurecht. Wieder setzt sich der Pfarrer ins Auto. Er sei "sehr traurig", dass so wenige Menschen in die Kirche gehen, sagt Rockstroh. Und spricht wieder davon, dass sie bei Gott auftanken könnten. "Aber ich trage es Einzelnen nicht nach, dass sie nicht kommen", sagt er. Er wisse ja, dass jeder andere Vorlieben und Verpflichtungen habe. "Andererseits glaube ich, dass sie sich mit halb vollem Tank nicht wohlfühlen."

Der Pfarrer parkt vor dem Pfarrhaus in Möringen. Um 13.30 Uhr fängt der nächste Gottesdienst an. Zum Essen hat Alfredo Rockstroh keine Zeit. Er legt Liedzettel in der Kirche aus und bespricht sich mit der Organistin und Solosängerin, seiner 23-jährigen Tochter. Miriam-Dorothee Rockstroh ist eigens aus Lüneburg angereist, wo sie seit sieben Jahren lebt. Sie sei nervös, sagt sie. Der Pfarrer zeigt keine Anzeichen von Erschöpfung.

Neun Jugendliche aus den zehn Gemeinden nehmen zurzeit an seinem Konfirmandenunterricht in Möringen teil. Rockstroh führt in dem 600-Einwohner-Ort auch seelsorgliche Gespräche. Er kutschiert herum, leitet Frauenkreise und besucht Kranke und Alte. Sooft er Zeit hat, fährt er die 40 Autominuten zu seiner Frau. Oder er reitet, fährt mit dem Boot. Alfredo Rockstroh ist braun gebrannt. Früher feierte er an manchen Sonntagen vier Gottesdienste. "Ich habe davon Abstand genommen. Wegen der Stimme." Vor allem aber, weil er mit seinen Gedanken nicht voll und ganz dabei sein konnte: "Ich will ja keine Show abziehen."

Kurz nach eins. Vor dem Gemeindehaus versammeln sich Herren und Damen in Anzügen und bunten Röcken: die Konfirmanden der Jahrgänge 1956 bis 1958. Die Männer dieser Generation heißen Egon und Lothar, die Frauen Heidemarie und Roswitha. Vier Stunden hat Alfredo Rockstroh gebraucht, um ihre 37 Urkunden mit der Hand zu schreiben. 37 Mal hat er einen Vers aus Psalm 23 zu Papier gebracht: "Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser." Jetzt steht Rockstroh auf einem Stein und hebt die Arme: "Seien Sie herzlich willkommen. Folgen Sie mir."

In der Predigt spricht der Pfarrer davon, dass auch Menschen, die sich von Gott abgewandt haben, wieder zu ihm kommen könnten. An den anderen Sonntagen hält er mehrere Male dieselbe Predigt. Heute soll es etwas Besonderes sein. Rockstroh teilt das Abendmahl aus. Drei Mal hat er an diesem Tag das Vaterunser gesprochen, drei Mal das Glaubensbekenntnis. Er wird nachher ins Nachbardorf Insel fahren, wo die goldenen Konfirmanden und ihre Familien Kaffee trinken. Er wird wieder Hände schütteln und vielleicht Zeit finden für ein privates Gespräch mit seiner Tochter. Es ist kurz nach drei. Alfredo Rockstroh sagt: "Ich finde es schön, wenn die Leute während meiner Predigt nicken, um zu sagen: So sehe ich das auch. Dann weiß ich, dass ich sie erreicht habe." Ein paar Mal sei das heute geschehen.
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